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19. September 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Shut up and Play the Piano (Philipp Jedicke)


Shut up and
Play the Piano
(Philipp Jedicke)

Deutschland / Frankreich / UK 2018, Konzept: Philipp Jedicke, Kamera: Marcel Kolvenbach, Marcus Winterbauer, Schnitt: Henk Drees, Carina Mergens, mit Chilly Gonzales, Sibylle Berg, Peaches, Leslie Feist, Jarvis Cocker, Puppetmasterz, Raik Hölzel, Daft Punk, Raz Ohara, Joe Flory, Renaud Letang, Kleber Valim, Lena Buhl, Cornelius Meister, Kaiser Quartett, 82 Min., Kinostart: 20. September 2018

Der Standardtext einer solchen Musik-Doku verläuft so, dass sich der Journalist auf Wikipedia oder dergleichen vor Abfassen seines Textes informiert hat und dann so tut, als kenne er Chilly Gonzales persönlich und habe seine Musik schon mit der Muttermilch aufgesogen. Außerdem schwafelt man dann bevorzugt über die Figur, die im Film vorgestellt wird und nicht über den Film selbst.

Auf dem Presseserver ist man diese Herangehensweise gewohnt, denn neben elf oder zwölf »Screenshots«, die sich durch eine quasi unterirdische Bildqualität und schwarze Ränder auszeichnen, die wohl das Benutzen unterschiedlicher Trägermedien und Bildformate besonders betonen sollen, bietet man auch etwa 15 publicity shots des Musikers an, die sich gerade in Hochglanzmagazinen viel besser machen. Wie absurd das eigentlich ist, wenn man über den Film berichten will und nicht etwa über den neuesten Longplayer oder Tourbeginn, fällt kaum jemandem auf.

Shut up and Play the Piano (Philipp Jedicke)

® 2018 Rapid Eye Movies & Gentle Threat

Ich habe nie zuvor von Chilly Gonzales gehört gehabt, wurde aber hellhörig, als mal der Bruder des bürgerlich Jason Beck genannten Kanadiers erwähnt wurde: Christophe Beck, der so erklärt man im Film, weitaus »technischer« als sein Bruder mit der Musik umgeht. Dass Christophe Beck ein seit Jahren bekannter Filmkomponist ist, der beispielsweise durch den Score zu Frozen in unzähligen Kinderzimmern (und meinem höchstpersönlichen CD-Regal) steht, wird im Film nicht erklärt. Würde ja auch nur vom eigentlichen Star des Films ablenken.

Chilly Gonzales (auch unter anderen Namen bekannt) studierte einst Musik und landete Anfang der 2000 in Berlin, wo er unter anderem den Titel »President of the Berlin Underground« anstrebte (die Pressekonferenz dazu ist schon ziemlich göttlich). Er trat mit anderen Kanadiern wie Peaches und Leslie Feist auf, kombinierte Elektro mit seinem gewöhnungsbedürftigen Sprechgesang, erfand sich dann irgendwann als Solopianist neu usw.

Shut up and Play the Piano (Philipp Jedicke)

® 2018 Rapid Eye Movies & Gentle Threat

Wenn man die Doku ohne Vorwissen betrachtet, kommt man nicht um den Eindruck herum, dass einer sogenannten mockumentary folgt, also etwas wie Fraktus, mit einem fiktiven Musiker à la Dewey Cox oder Spinal Tap. Unterstützt wird dieser Eindruck dadurch, dass Chilly durchaus an Sacha Baron Cohen erinnert. Und man während des Dokumentarfilms sogar ein Casting verfolgt, bei dem junge Frauen die Rolle des Chilly Gonzales als »Doppelgänger« ausfüllen sollen.

Wenn er im Morgenmantel auf großen Bühnen auftritt oder sich ungestüm auf einem Klavier räkelt (oder fast reinklettert), während das um Haltung bemühte Wiener Radio Orchester ihn philharmonisch begleitet, so passt das nicht automatisch zusammen mit frühen Privatvideos, wo er in einer kleinen Wohnung mit Peaches um die Wette rockt (hübsch auch die Interviewschnipsel, wo beide darauf beharren, der jeweils andere sei der Mentor gewesen).

Shut up and Play the Piano (Philipp Jedicke)

® 2018 Rapid Eye Movies & Gentle Threat

Auch ohne Vorwissen ist das immens unterhaltsam, und es kann ohne weiteres passieren, dass man sich danach die eine oder andere Platte anschauen will (oder zumindest mal youtube durchforstet).

»Maybe in a perfect world I would have dreamt to be a normal musician.« - Gegen Ende des größtenteils chronologisch ablaufenden Films wird Chilly »bescheiden« (auch, was die eigenen Talente angeht wie die eher unterdurchschnittliche Gabe, Noten zu lesen) und der Film bekommt einen etwas ernsteren Tonfall, der aber das Amüsement nicht einfriert. So wie der Musiker Respekt für seinen Großvater entwickelt, passt an dieser Stelle auch ein wenig Respekt vom Kinozuschauer, wo man in der Anfangsphase eher den Kopf schüttelt - und das nicht immer im Takt.

Shut up and Play the Piano (Philipp Jedicke)

® 2018 Rapid Eye Movies & Gentle Threat

Auf eine genaue Chronologie all seiner gerade in späteren Jahren durchaus prominenten Zusammenarbeiten mit anderen Musiker legt Regisseur Philipp Jedicke in seinem Film keinen besonderen Wert, es geht ihm wirklich darum, innerhalb des Films ein Porträt zu erstellen. Oder wie ich so was nenne: ein richtiger Dokumentarfilm, noch dazu mit einem interessanten Sujet. Da verschmerzt man auch das zu Beginn manchmal etwas suboptimale Bildmaterial, weil man es tatsächlich als »historisch« begreift - auch, wenn man von dieser Geschichte nie etwas mitbekommen hat, weil sie sich in seltsamen »Auflaufrestaurants« und Berliner Mietwohnungen abspielte, ehe die Orchesterbühnen erobert wurden (da sind die Aufnahmen dann auch deutlich professioneller).