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30. Mai 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Augenblicke - Gesichter einer Reise (Agnès Varda & JR)


Augenblicke - Gesichter einer Reise
(Agnès Varda & JR)

Originaltitel: Visages, Villages, Frankreich 2017, Buch: Agnès Varda & JR, Kamera: Claire Duguet, Nicolas Guicheteau, Valentin Vignet, Romain Le Bonniec, Raphael Minnesota, Roberto De Angelis, Julia Fabry, Schnitt: Agnès Varda, Maxime Pozzi-Garcia, Musik: Matthieu Chedid aka -M-, mit Agnès Varda, JR, Nathalie Schleehauf (Kellnerin), Jacky Patin (Briefträger), Nathalie Maurouard, Sophie Riou, Morgane Riou (Frauen von Hafenarbeitern) und viele weitere Fabrikarbeiter, Ex-Bergbauer, Passanten usw., 93 Min., Kinostart: 31. Mai 2018

Meine ganz persönliche und hierbei puristische Herangehensweise an den Dokumentarfilm, die einige moderne Tendenzen ganz bewusst verleugnet, kann ich nicht in jeder zweiten neuen Kritik neu erläutern, deshalb arbeite ich hier ganz nah am Film.

Künstlerportraits sind wie geschaffen für Dokumentarfilme. Nicht jeder Kunstinteressierte hat die finanziellen Mittel für teure Bildbände oder Ausstellungen in fremden Städten, und eine Doku bietet den Künstlern auch die Möglichkeit, mit überschaubaren Mitteln eine größere Fangemeinde zu finden.

Augenblicke - Gesichter einer Reise (Agnès Varda & JR)

© Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

In diesem Fall haben sich die bekannte französische Regisseurin, Künstlerin und Fotografin Agnès Varda (»Großmutter der nouvelle vague«) und der Streetart-Künstler JR zusammengetan, um Frankreich zu durchqueren, ihn bei der Arbeit zu beobachten und nebenbei die entstehende Freundschaft zwischen den beiden Protagonisten einzufangen.

Teilweise entspinnt sich dabei sogar eine gewisse Narration, wenn die 89jährige Agnès den langsamen Verlust ihrer Sehkraft schildert, während der 33jährige JR sich strikt weigert, ohne Sonnenbrille aufzutauchen. Varda versucht auch, nebenbei ihren alten Freund Jean-Luc Godard zu treffen, doch die stattfindende Kommunikation reicht nicht aus, den Schweizer Regisseur als Mitwirkenden des Film aufzuzählen.

Augenblicke - Gesichter einer Reise (Agnès Varda & JR)

© Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Das Kernstück des Films sind die großformatigen Schwarzweißfotografien JRs, die dieser bevorzugt an große Hauswände und ähnliches »plakatiert«. Diese Kunst, die immer auch etwas über die Menschen auf den Bildern erzählt (im Film natürlich noch viel mehr), ist durchaus sehr interessant. Gesellschaftlich wie visuell. Und sie wird zum großen Teil dazu beigetragen haben, dass der Film sogar für den letzten Oscar im Bereich Dokumentarfilm nominiert wurde.

Ich weiß die Abbildung dieser Kunst auch durchaus zu schätzen. Die kleine Kellnerin, die jetzt immer mal wieder auf ihr riesiges Konterfei an einer Hauswand angesprochen wird, die Fabrikarbeiter, die sich symbolisch die Hand reichen, die Passanten, die hintereinander in JRs prächtig gestaltetes »Fotomobil« schlüpfen, aus dem wie aus einer Sofortbildkamera postergroße Portraits heraus kommen - dies alles hat einen großen Reiz und auch die beiden Filmemacher als Protagonisten sind durchaus unterhaltsam.

Augenblicke - Gesichter einer Reise (Agnès Varda & JR)

© Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Für meinen Geschmack hat dies aber weniger mit einem Dokumentarfilm zu tun, denn es wirkt vieles so schrecklich gestellt. Sämtliche Pressebilder zeigen jeweils vollendete Kunstwerke mit zusätzlich drapierten Personen vor dem Bild, alle Reisebeschreibungen und vermeintlich spontanen Gespräche wirken zumindest zum Teil geskriptet, der gesamte Film wirkt letztlich wie ein bewegter Bildband.

Es geht sogar so weit, dass man sich bei der vermeintlichen gemeinsamen »Fahrt ins Blaue«, die zu Beginn des Films so herüberkommt, als hätte man allenthalben vage Ansatzpunkte, was man erkunden wolle, alle Nase selbst entlarvt, wenn etwa Frau Varda »rein zufällig« passende Mitbringsel zum aktuellen Projekt dabei hat. (An einer anderen Stelle des Films sagt sie noch »Der Zufall hat sich als mein bester Assistent erwiesen«, was für diesen Film fast gar nicht zutrifft.)

Augenblicke - Gesichter einer Reise (Agnès Varda & JR)

© Agnès Varda-JR-Ciné-Tamaris, Social Animals 2016

Sicher, eine 89jährige mit Terminen beim Augenarzt springt nicht ganz spontan in ein Gefährt und man schaut dann mal, was man in drei bis fünf Wochen so an Filmmaterial zusammenbekommt. Aber wenn man durch nicht weniger als sieben Kamerapersonen eigentlich überdeutlich macht, dass der Film in gut geplanten Etappen gedreht wurde, warum erweckt man dann einen gänzlich anderen Eindruck von einem hippieesken Happening? Für mich ist das suspekt bis verlogen, und das an sich interessante Filmprojekt kann diesen schlechten Beigeschmack auch nicht vertreiben.

Wenn man dieses Vorwissen hat, sich für Fotografie und Arbeiterschicksale in Frankreich interessiert, ist der Film durchaus sehenswert. Es ist nur im Grunde ein Werbefilm, der als Doku daherkommt. Und das haben weder JR (als Mittäter involviert) noch die pittoresken Arbeiter (als Statisten engagiert?) verdient.