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14. März 2018
Thomas Vorwerk
für satt.org


  The Florida Project (Sean Baker)


The Florida Project
(Sean Baker)

USA 2017, Buch: Sean Baker, Chris Bergoch, Kamera: Alexis Zabé, Schnitt: Sean Baker, Alejandro Carrillo Penovi, Kostüme: Fernando A. Rodriguez, Musikberatung: Matthew Hearon-Smith, mit Brooklynn Kimberly Prince (Moonee), Bria Vinaite (Halley), Willem Dafoe (Bobby), Valeria Cotto (Jancey), Christopher Rivera (Scooty), Mela Murder (Ashley), Karren Karagulian (Narek), Caleb Landry Jones (Jack), 115 Min., Kinostart: 15. März 2018

Am Wochenende lief auf Vox das Doku-Sequel Asternweg - Ein Jahr später, über eine Gegend in Kaiserslautern, in der man mal in den 1950ern als vorübergehende Maßnahmen gegen (bzw. natürlich für) Obdachlose sogenannte »Schlichtwohnungen« errichtete, einige Wohnblöcke, bei denen es selbst an heutzutage obligatorischen Wohnungsbestandteilen wie einem Bad fehlte. Die Häuser im ehemaligen »Kalkofen« stehen immer noch, man hat nur die Straßen mit Blumennamen euphemisiert - heutzutage leben hier zu nicht geringem Anteil Alkoholiker, Kleinkriminelle und Hartz-IV-Empfänger, die oft in diese Gegend hineingeboren wurden und nie wieder den Absprung schafften.

Zu den Hauptprotagonisten der Doku (die ich nicht zuende sah, weil ich auf die Laufzeit von vier Stunden nicht vorbereitet war und noch etwas anderes vorhatte) gehört eine 27jährige, die im Verlauf des beobachteten Jahres zum sechsten Mal Mutter wurde, und die vor der dringend notwendigen Sterilisation eine Todesangst hatte. Asternweg hat einen kleinen Unterton von Hoffnung (der Vorgängerfilm wurde preisgekrönt und motivierte mehrere Spenden- und Hilfsaktionen), aber auch diese Faszination, einem quälend langsamen Autounfall zuzusehen.

The Florida Project spielt in einem ähnlichen »Brennpunkt«, der nur ungleich bunter und märchenhafter wirkt. In der Nähe von Disneyworld stehen hier an einer vielbefahrenen Schnellstraße mehrere Billigmotels mit blumigen Namen wie »Magic Castle«, »Futureland« oder »Enchanted Inn« - gerade noch so disneyähnlich, dass man nicht verklagt wird. Neben Touristen gehören zu den Kunden dieser Motels auch arme Anwohner, die vermutlich fürs selbe Geld auch eine richtige Wohnung beziehen könnten - doch die täglich oder wöchentlich fällige Miete ist einfacher einzurichten, wenn man ganz unten am sozialen Spektrum gelandet ist - quasi einen Steinwurf von der Obdachlosigkeit.

The Florida Project (Sean Baker)

© 2017 Prokino Filmverleih GmbH

Der Film erzählt jetzt von der sechsjährigen Moonee (Brooklynn Kimberly Prince), ihren Freunden und ihrer alleinerziehenden Mutter Halley (Bria Vinaite), vorwiegend aus der Kinderperspektive. Inmitten der knallbunt gestrichenen Motels, die offenbar auch unter Geldproblemen leiden (ein Anstrich ist deutlich preiswerter als ein Kammerjäger) spielen die Kinder voller Lebenslust, keineswegs deprimiert durch ihre Situation, auch, weil sie die Details noch nicht umfassend begreifen.

Die zu großen Teilen improvisierten Szenen unter den Kindern zeigen zwar, dass Moonie und Konsorten auch schlimme Nervensägen sind, die häufig dummes Zeug anstellen wie vom Balkon zu spucken oder in leerstehenden Häuser einen Kamin wieder zu seiner ursprünglichen Funktion zurückzuführen, Aber die Kids haben so viel Charisma, dass man ihnen gerne dabei zuschaut (Regisseur Sean Baker ließ sich hier sehr von den fast vergessenen »kleinen Strolchen« aus der Stummfilm - und frühen Tonfilmzeit inspirieren).

The Florida Project (Sean Baker)

© 2017 Prokino Filmverleih GmbH

Baker, der zuletzt mit einem I-Phone von den Schicksalen einiger Transgender-Prostituierter berichtete (Tangerine) - wobei man betonen sollte, dass beide Filme keine Dokus sind, sondern Spielfilme mit vielen Laiendarstellern aus dem gezeigten Milieu - hat mit seinem Überraschungshit genug Credibility versammelt, um nun mit der nicht zuletzt wegen der Kosten immer seltener verwendeten 35mm-Kamera einen irgendwie ähnlichen, aber nicht ganz so harten Nachfolger zu liefern, den er gemeinsam mit seinem Produzenten und Co-Autoren Chris Bergoch schulterte.

Für die Finanzierung wohl notwendig war auch das Casting eines veritablen Stars, Willem Dafoe spielt hier Bobby, den Aufpasser des Motels, der gerne besonders forsch tut, aber sich durchaus um seine Mieter kümmert. Dafoe schildert im Presseheft, dass seine Situation als Profischauspieler inmitten lauter spielerischer, aber nicht wirklich fokussierter Kids ziemlich gut seiner Rolle entsprach: Diese dauerhafte Frustration, wenn die Mieter (nicht zuletzt die Kids) immer wieder Regeln brechen und sein Leben nicht wirklich vereinfachen, wird wohl auch dazu geführt haben, dass Dafoe sogar eine Golden-Globe-Nominierung (und einige gewonnene Preise) erhielt.

The Florida Project (Sean Baker)

© 2017 Prokino Filmverleih GmbH

Die Stars sind aber die Kids, mit denen zusammen man erlebt, wie die Situation immer brenzliger zu werden scheint. Wo zu Beginn des Films aus einer Beschwerde unter Müttern eine feste Freundschaft zwischen den Kindern wurde, kommt es gegen Ende zu handfesten Schlägereien zwischen Halley und ihrer besten Freundin Ashley oder Besuchen vom Jugendamt und der Polizei, weil man die Wohnungen eben nicht "professionell" nutzen darf und es den aufmerksamen Nachbarn nicht entgeht, wenn man häufig wechselnden Herrenbesuch hat.

Das Wechselspiel zwischen Kleinkriminalität und Kinderspiel ist sehr faszinierend, nicht zuletzt auch, weil man sieht, wie sich die Kinder ziemlich rasant auch zu Quasikriminellen entwickeln, dabei aber trotz aller Sorge immer Top-Sympathieträger bleiben.

The Florida Project (Sean Baker)

© 2017 Prokino Filmverleih GmbH

Wie sich aus den episodisch wirkenden Szenen eine echte Handlung entwickelt, wie man die Story auch filmästhetisch untermauert - aber auch die schlichtweg ungewöhnliche Herangehensweise und nicht zuletzt die tollen Kinder in all ihrer Ambivalenz machen The Florida Project zu einem meiner Lieblingsfilme des Jahres (meine aktuellen Top 3 starten übrigens alle im März, Lucky und Thelma kann ich ebenfalls nur wärmstens ans Herz legen).

Es gibt zwar ein paar problematische Szenen, aber im Grunde hätte The Florida Project aus meiner Sicht auch bei der Generation laufen können - oder zur Unterstützung der Hommage für Willem Dafoe. Um womöglich der beste Film der Berlinale zu werden. Aber da man schon in Cannes und beim Filmfest Hamburg lief, war das leider ausgeschlossen. Dafür können jetzt größere Publikumskreise Zeuge dieses absolut tollen Films werden.