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21. Juni 2017
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Life, Animated (Roger Ross Williams)


Life, Animated
(Roger Ross Williams)

USA 2016, Buch: Roger Ross Williams, David Teague, Buch-Vorlage: Ron Suskind, Kamera: Tom Bergmann, Schnitt: David Teague, Musik: T. Griffin, Dylan Stark, Original-Animation: Mac Guff, mit Owen Suskind, Ron Suskind, Cornelia Suskind, Walter "Walt" Suskind, Gilbert Gottfried, Dr. Alan Goldblatt, Emily u.v.a., 91 Min., Kinostart: 22. Juni 2017

Es kommt häufiger vor, dass ich in einer meiner Kritiken schreibe, dass der besprochene Film ein Problem hat. Meistens bezieht sich dass dann auf Entscheidungen der Filmemacher, die ich als zweifelhaft einstufe.

Bei Life, Animated liegt das Problem darin, dass der Dokumentarfilm erst einsetzt, wenn das dargestellte Problem nicht nur schon gelöst wurde, sondern auch bereits ein ganzes Buch über die eigentümliche Situation eines autistischen jungen Mannes geschrieben wurde, und zwar von seinem Vater, Ron Suskind, einem mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichneten Journalisten. Das zu lösende Problem für die Filmemacher war also, mit den Mitteln des Dokumentarfilms, diese Geschichte erneut zu erzählen und ihr (nicht notwendigerweise, aber man entschied sich so) eine aktuelle Fortsetzung der Geschichte dranzuhängen, die im Vergleich mit dem eigentlichen Twist nicht komplett abstinkt (was auch ganz gut gelingt). Außerdem gab es noch ein zweites Problem, denn man kann sich nur diesen Film nur schwer ohne einige Filmausschnitte aus Disney-Zeichentrickfilmen vorstellen, und die Rechte dafür übersteigen das Budget der meisten Dokumentarfilme. Die preiswertere Alternative liegt hier darin, dass man das Ganze von einigen Disney-Experten absegnen lassen muss, was natürlich eine Beschneidung der kreativen Mittel der Filmemacher darstellt. Aber da das Spiel zwischen Kunst und Kommerz hier ohnehin deutlich vom Kommerz gewonnen wird, gelingt auch dieses.

Life, Animated (Roger Ross Williams)

© Life Animated Documentary Productions LLC

Die Geschichte, die Ron Suskind in seinem Buch Life, Animated: A Story of Sidekicks, Heroes, and Autism erzählt, wird im Film vom Autor nacherzählt und durch home videos unterstützt. Mit drei Jahren verlor der zuvor normal entwickelte Owen seine Sprachfähigkeit, Autismus und eine »pervasive development disorder« wurden diagnostiziert und trotz der aktiven Mithilfe durch die Familie schien der Junge nur noch glücklich, wenn er Disney-Zeichentrickfilme schauen konnte. Irgendwann später entdeckte der Vater ein altes Video, in dem er mit dem Sohn vor dem Sprachverlust im Garten spielte, genauer gesagt man hatte einen Schwertkampf simuliert, bei dem der Vater die Rolle des Captain Hook und der Sohn die des Peter Pan innehatte. Die Eltern berichten von der rasanten Entwicklung im Zusammenhang mit dem zuvor »verschwundenen« Sohn: »Everything was falling into place - but all of a sudden!«

Denn durch das Video inspiriert sprach der Vater seinen Sohn nun mit einer Iago-Handpuppe (Jafars Papagei aus Aladdin) an, und erstmals seit längerer Zeit antwortet Owen. Und plötzlich ergab Owens »Gibberish« einen Sinn, etwa das oft wiederholte »Juicervose«, das sich als das (im Kontext fast tragische) »Just your voice« der Seehexe Ursula gegenüber der Little Mermaid Ariel offenbarte.

Life, Animated (Roger Ross Williams)

© Life Animated Documentary Productions LLC

Es ist anzunehmen, das Ron Suskind in seinem Buch die weiteren Fortschritte seines Sohns beschreibt (»We started to talk to our son in Disney dialogues« --- »Disney films don't change«), im Film geht es mehr um den inzwischen erwachsenen Owen und seine Integration in die Gesellschaft, über ein betreutes Wohnen.

Dass Owen seinen Eindruck des alltäglichen Lebens nur über auswendig gelernte Disney-Dialoge verarbeiten kann, ist so ein interessantes Thema, dass man in einem Buch super beschreiben kann, dass sich aber den Mitteln des Dokumentarfilms gegenüber sperrt. Man zeigt zwar, wie Owen Disneyfilme schaut und mitspricht und spielt, aber spätestens, wenn er direkt in die Kamera einen Schwertkampf simuliert, wirkt dies natürlich inszeniert und nicht beobachtend.

Life, Animated (Roger Ross Williams)

© Life Animated Documentary Productions LLC

Der Moment, wo der Film aber seine Existenzberechtigung erfährt, ist weniger die Beschreibung des aktuellen Lebens Owens, sondern die Interaktion des Films mit ihm. Denn Owen, der sich als »Sidekick« sieht (bzw. als »Protector of Sidekicks«), was zu einer unschönen Parallelisierung des behinderten Protagonisten mit der Disney-Version des Glöckners von Notre Dame führt, die man aber den Filmemachern nicht anlasten darf, weil Owen selbst diese Parallele zog, zeichnet nicht nur gerne seine Disney-Freunde ab (er hat sogar eigene Ausstellungen), nun gehen die Filmemacher einen Schritt weiter und verwandeln eine selbstgeschriebene Geschichte, die Donald mit seinen Freunden wie Mufasa oder Sebastian erlebt, in einen (preiswert) animierten Film. Auch, wenn ich nicht verstanden habe, warum man Owen erste Sichtung dieses Films nicht zur zentralen Stelle des Films machte. Vielleicht waren die Eltern dagegen.

Über meine Bedenken angesichts der Quasimodo-Parallelisierung sprach ich schon. Im Film gibt es mal eine Montagesequenz mit unzähligen happy endings aus Disney-Filmen, die aber mit einer direkten Überblendung von Quasimodo zu Owen endet. Bei der ganzen Sidekick-Debatte (Owen zeichnet keine Helden, nur die Nebenfiguren) wird offenbar übersehen, das Quasimodo sogar der Titelheld seines Films ist, und man rettet diese leichte Schieflage ganz am Schluss des Films, wenn man das Ende vom Hunchback of Notre Dame wie folgt zusammenfasst: »Quasimodo doesn't get the girl, but gets accepted into the society, he is not an outcast anymore.« Wie Owen, der schließlich sogar auf einer internationalen Konferenz in Rennes auftritt (so was wie der Höhepunkt der Filmgeschichte).

Life, Animated (Roger Ross Williams)

© Life Animated Documentary Productions LLC

Aber die Sache mit dem Mädchen ist auch interessant, denn Owen hat zwischendurch mal eine Freundin namens Emily, und das Thema Sexualität spielt in Disney-Zeichentrickfilmen keine so große Rolle (immerhin gibt es ab und zu Geburten wie bei Lady and the Tramp aka Susi und Strolch). Owens größerer Bruder Walter, genannt Walt (!), hat keine Lust, ein Leben wie Mowgli oder Peter Pan zu führen und will auch seinem Bruder weiterhelfen. Doch ohne Disney-Unterstützung ist das wohl schwer. Einmal beginnt er, die schöne Disney-Welt mit der nicht unbedingt weniger schönen Realität abzugleichen, indem er seinem Bruder erklärt »When people kiss, they don't just use their lips, but ...« - und an der Stelle verlässt ihn sein Mut und er bringt den Satz mit »their feelings« zuende. Irgendwann, als die Kamera mal nicht auf die beiden gerichtet ist, scheint er seinen zögerlichen Sexualunterricht weiterzuführen und gibt Owen quasi den Auftrag »Kiss the girl!« Nur eben mit Zunge. Ein wirklich interessanter Aspekt des Films (und der Verhältnisses unter den Brüdern) besteht nun darin, dass Emily die Beziehung abbricht (genaue Gründe werden nicht thematisiert) und sie auch im weiteren Film nicht mehr für die Kamera zur Verfügung steht. Und an der Stelle kann man sich dann fragen, ob ein jugendfreies Disney-Leben für Owen vielleicht doch besser gewesen wäre als der Versuch, etwas weiter zu kommen als Quasimodo ...

Nach dem Film wollte ich mir übrigens gleich das Buch kaufen (war mir aber zu teuer), und trotz seiner problematischen Stellen würde ich den Film definitiv empfehlen. Gerade für Leute, die sich ein bisschen in Disney-Filmen auskennen und so auch die jeweiligen Filmsituationen mit den realen Parallelen verknüpfen können (obwohl es davon nicht soo viel gibt, wie ich mir erwünscht hätte).