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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




11. Februar 2017
Elisabeth Nagy (Golden Exits)
& Thomas Vorwerk (restliche Kritiken)
für satt.org
Berlinale 2017



Alle Terminangaben sind sorgfältig abgetippt, aber ohne Gewähr. Die Filme werden immer unter dem Titel aufgeführt, unter dem man sie im offiziellen Berlinale-Katalog findet.


Cinemania-Logo 161:
Startschuss (Berlinale, Teil 3)



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Estiu 1993 / Fridas Sommer
(Carla Simón, Generation Kplus)

  Fridas Sommer

Intern. Titel: Summer 1993, Spanien 2017, Buch: Carla Simón, Kamera: Santiago Racaj, Schnitt: Didac Palou, Ana Pfaff, Musik: Ernest Pipo, Pau Boïgues, Sound Design: Roger Blasco, mit Laia Artigas (Frida), Paula Robles (Anna), Bruna Cusí (Marga), David Verdaguer (Esteve), Fermi Reixach (Abuelo), 96 Min., Kinostart: 26. Juli 2018

Dieser ab 11 Jahren empfohlene Kplus-Film geht programmierungstechnisch offenbar davon aus, dass das mitunter eigentümlich festgelegte »Zielpublikum« ein Elternteil oder jemanden anders (Klassenausflug ins Kino) dabei hat, der auf Nachfrage bestimmte Umstände erklärt.

Die Mutter der sechsjährigen kleinen Frida (Laia Artigas) ist an der im Jahr 1993 noch eher »halberforschten« Krankheit Aids gestorben und das Mädchen zieht nun nach einem traurigen Abschied (noch verstärkt durch ein wohl aus anderen Gründen abgebranntes Feuerwerk) von Barcelona zu ihrem Onkel Esteve, die mit seiner Frau Marga und der kleinen Tochter Anna (Paula Robles) auf dem Land lebt. Der Film erzählt von den Konflikten zwischen Frida und ihrer »Ersatzmutter«, ihrem Umgang mit der »neuen« Schwester (inkl. eines dramatischen Verschwindens im Wald) und dem ziemlich ungewöhnlichen Coming-of-Age im Schatten dieser Krankheit.

Der Film transportiert dies alles äußerst behutsam und durchaus auch aus der kindlichen Perspektive, aber ohne der zu erwartenden stringenten pädagogischen Erklärung des Hauptinhaltspunktes Aids oder des einem elfjährigen Kind sicher nicht vertrauten Umstands, dass es mal eine Zeit gab, als diese Krankheit nicht ein tragischer, aber unumgehbarer Fakt unseres Alltagslebens war, sondern ein von Gerüchten umranktes Werkzeug der Intoleranz, das schnell Anlass zur Panik gab (»Darf ich mich auf eine Toilettenbrille setzen, wenn ...«).

Denn die Informationsvergabe, die man als Erwachsener diesem Film entnimmt, ist eine völlig andere als für ein kindliches Publikum, die Krankheit wird beispielsweise fast nie im Film beim Namen genannt und die Panik auf einem Spielplatz angesichts einer eher unspektakulären Verletzung Fridas, überträgt sich narrativ auf ein Kind etwa so bruchstückhaft, wie der Umstand, dass die Kindernamen Anna und Frida ein deutlicher Hinweis auf die musikalischen Vorlieben der historisch klar zu verortenden Eltern sind.

Estiu 1993 / Summer 1993 (Carla Simón, Generation Kplus)

© Inicia Films / Lucia Faraig

Aber, und das macht den Film zu einem Erlebnis: die Geschichte funktioniert auf beiden Ebenen. Ein Kinderleben besteht eben aus einem Umfeld, in dem sich viele Zusammenhänge nicht genau erschließen, und damit kommt man vermutlich auch gut klar, solange eine Geschichte gut erzählt ist und man sich den Subtext quasi intuitiv zusammenreimt. Ich kenne niemanden, der aktuell auch nur annäherungsweise 11 ist (Kinder aus meinem Umfeld sind aktuell eher 16 oder höchstens 6), aber vermutlich kann man sich im Gespräch auf dem Spielplatz oder Schulhof durch die gleichaltrige Schwarmintelligenz Details dazu zusammentragen, wie man zu meiner Zeit noch darüber fachsimpelte, was genau ein Zungenkuss ist oder wo die Babys herkommen (Sexualkundeunterricht und Bravo kamen erst etwas später).

Eigentlich ist es schade, dass der Film zwischen dem Alter der Hauptfigur und dem ernstzunehmendem selbstständigen Verständnis durch Zuschauer solch einen Alters-Spagat macht. Im »Generation«-Prospekt empfiehlt man den Film zwar auch dem 14plus-Publikum (und das mit Recht), aber es erscheint mir doch fraglich, inwiefern sich ein frühpubertäres Publikum noch auf die sommerlichen Abenteuer einer Sechsjährigen (und Anna ist ja noch jünger) einlässt. Bei meiner Nichte war spätestens mit 12einhalb die Zeit für »Kinderfilme« vorbei, abgesehen von »süßen« Animationsfilmen ging es dann um jene Filme, die auch im Umfeld diskutiert wurden, also beispielsweise Romantic Comedies oder die späteren Teile von Harry Potter, Twilight, The Hunger Games und Konsorten.

Umso mehr ist Estiu 1993 aber ein Film, den man als Erwachsener auch ohne kindliche Alibi-Begleitung zu schätzen weiß. Die vielen kleinen Episoden sind gut durchdacht, die beiden Mädchen tragen den Film, wie es viele Erwachsene nicht hingekriegt hätten, und das unterschwellige Thema wirkt nur in wenigen Momenten (»How's your dinner?" - »It's to die for!«) aufgesetzt.

Die tolle Einstiegsszene des Films demonstriert, wie man oft mehr sagen kann, wenn man etwas nicht direkt anspricht. Diverse Kinder spielen ein Spiel. Sie müssen auf ein Kind zugehen, das sich dann umdreht und alle müssen dann stillstehen. Der Junge, der gerade dran ist, animiert durch Grimassen ein Kind aus seiner Starre auszubrechen. »You're dead!« Dies versucht er auch bei Frida, die wir nur von hinten sehen. Bringt aber nichts. Dann hat er eine perfide Idee und fragt sie »Why aren't you crying?« Wir sehen nicht, was in Fridas Gesicht in diesem Moment passiert, aber der Junge stellt kühl fest »You're dead!« man weiß zu diesem Zeitpunkt eigentlich noch nichts über die Geschichte (außer, wenn man sich für die Filmauswahl informiert hat) und man wird direkt hineingerissen. Und so bleibt es auch.

Im Grunde funktioniert der Film wie eine Kindheit. Man erhält immer mehr seltsame Puzzleteile, muss sich die zusammensetzen, und nach und nach (je Zuschaueralter durchaus unterschiedlich), erfährt man immer mehr, auf dem man weitere Einsichten aufbauen kann.


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Golden Exits
(Alex Ross Perry, Forum)

 
Letzte Vorführungen:
  • Donnerstag, den 16. Februar um 11 Uhr im CineStar 8
  • Samstag, den 18. Februar um 19 Uhr im Delphi


USA 2017, Buch: Alex Ross Perry, Kamera: Sean Price Williams, Schnitt: Robert Greene, Musik: Keegan DeWitt, mit Emily Browning (Naomi), Adam Horovitz (Nick), Chloe Sevigny (Alyssa), Mary-Louise Parker (Gwen), Jason Schwartzman (Buddy), Analeigh Tipton (Jess), Lily Rabe (Sam), Craig Butta (Greg), 94 Min.

Alex Ross Perry (Listen Up, Philip, Queen of Earth) verankert seine Figuren in der Nachbarschaft von Brooklyn. Die Kamera seines Stammkameramannes Sean Price Williams streift durch die Straßen und fängt diese ganz beiläufig ein und gibt dem Film damit eine Heimat, in der sich auch der Zuschauer wohl fühlt. Nur die Figuren haben dafür keinen Blick. Ein halbes Dutzend Protagonisten ist miteinander befreundet oder verheiratet oder verwandt. Da ist Nick (Adam Horovitz), der persönliche Dokumente sammelt, archiviert und aufbereitet, seine Frau Alyssa (Chloe Sevigny) wird seinen Geburtstag nicht mit ihm verbringen, dafür hat er seinen Freundeskreis, ausschließlich männlich, inzwischen zumeist Väter, eine langweilige Veranstaltung, die eher peinlich daherkommt. Alyssa hegt immer noch einen unterschwelligen Groll, weil Nick einmal fremdgegangen war. Sie zog keinen Schlusstrich, stattdessen ist sie wie ein schlechtes Gewissen immerzu präsent. Ihre Schwester Gwen (Mary-Louise Parker) ist ihr Halt und Herausforderung zugleich.

Es wird noch komplizierter. Perry hat ein ganzes Ensemble vereinigt, deren Darsteller seltsamerweise alle in etwa im gleichen Alter bzw. Altersabstand sind und sich auch irgendwie alle gleich aussehen. Denn Gwen hat eine persönliche Assistentin, das ist Sam (Lily Rabe), deren Schwester Jess (Analeigh Tipton) mit ihrem Mann Buddy (Jason Schwartzman) ein Aufnahmestudio betreibt. Dann kommt Naomi (Emily Browning) ins Spiel. Sie ist Australierin und hat nur ein Aufenthaltsvisum für den Zeitraum eines Praktikums bei Nick. Doch sie kennt Buddy, der mal vor Jahren in Australien war und ihr kindliches Ich ordentlich beeindruckt hatte.

Golden Exits (Alex Ross Perry, Forum)

© Sean Price Williams

Viele Figuren, die ständig irgendwelche Probleme wälzen, traurig sind, oder einsam oder beides, oder sich über den Partner grämen, was auch immer. Der Zuschauer würde gerne ihre Probleme teilen, bis einem einfällt, dass es doch ein Film ist und da können auch kleine Probleme enorm aufgebauscht werden. Perry ließ sich von Eric-Rohmer-Filmen inspirieren und wenn man das weiß, versteht man die eine oder andere Drehbuchentscheidung weit besser. Als Zuschauer droht man immer wieder im Sog der Dialoge unterzugehen, bleibt aber doch in etwa an der Oberfläche, um das weitgehend Handlungs freie Spiel zu verfolgen.

Alles steht und fällt mit den Figuren. Naomi, mit 25 Jahren recht jung und somit nicht ganz so desillusioniert, aber auch nicht so abgehärtet wie die New Yorker, ist so gut erzogen, dass sie die Menschen, denen sie begegnet, kennen lernen möchte, doch auch weiß, wo Grenzen liegen, um andere nicht zu verletzen. Doch genau das passiert, sie ist der Stein, den man in den Tümpel fallen lässt, der eine Wellenbewegung in Gang setzt, die für den Stein selbst keine Rolle spielt. Alyssa fühlt, nicht ganz zu unrecht, dass Nick mit Naomi fremdgehen könnte. Nick versucht sogar sein Glück, wird aber von Naomi eher undiplomatisch in seine Grenzen verwiesen, was er ihr doch irgendwie übel nimmt. Derweil will sie von Buddy etwas mehr, als der bereit ist, ihr zu geben und so weiter und so weiter. Wenn man in die Gesichter der Figuren schaut, die alle von schöner Gestalt sind, die alle etwas vorweisen können, alle irgendwas Künstlerisches machen, dann mag man sich von ihnen angezogen fühlen. Andererseits sind sie nicht sympathisch und wenn einem das zu irgendeinem Zeitpunkt auffällt, dann kann man darüber nicht mehr hinweg schauen. Wenn die Kamera den Figuren ganz nahe rückt, sogar zu nahe, nehmen wir ihre Stimmungen auf und werden dann von einer Laune in die andere geworfen. Genau diese Verwirrung steht auch Naomi ins Gesicht geschrieben, die eigentlich nur die Chance ihres jungen Lebens wahrnehmen will, ohne neurotische Zutaten.


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  Newton (Amit V Masurkar, Forum)

Newton
(Amit V Masurkar, Forum)

 
Letzte Vorführung:
  • Sonntag, den 19. Februar um 22 Uhr 15 im Cubix 9


Indien 2017, Buch: Mayank Tewari, Amit V Masurkar, Kamera: Swapnil S Sonawane, Schnitt: Shweta Venkat, Musik: Naren Chandravarkar, Benedict Taylor, Sound Design: Niraj Gera, Kostüme: Sachin Lovalekar, Production Design: Angelica Monica Bhowmick, mit Rajkummar Rao (Newton), Anjali Patil (Malko), Pankaj Tripathi (Atma Singh), Raghubir Yadav (Loknath), 106 Min.

Newton ist ein politischer Film - und beginnt gleich mit der Erschießung eines Politikers, der gerade noch betonte, dass er nicht die Stimmen seiner Wähler wolle, sondern Veränderung / Entwicklung. Natürlich ist das ein rhetorischer Trick, doch im Film geht es genau um diese feine Unterscheidung. Es zählt zwar jede einzelne Stimme, aber im Grunde geht es um den Ruck, der durch die Gesellschaft geht.

Hauptfigur Newton (ein indischer Wortwitz, er wird dafür natürlich im doppelten Wortsinn »veräppelt«) will zu einer Berufsgruppe gehören, die wahrscheinlich noch nie zum Filmheld getaugt hat: Wahlhelfer. Bei der großen Wahl in Indien gibt es politische Sprenggruppen, die zu allen Mitteln greifen (siehe Attentat zu Beginn). Und deshalb muss man sich absichern, dass sabotierte Einzelwahlbezirke durch eine technische Erneuerung trotz möglicher Komplikationen als Ergebnis »gerettet« werden können. Zur Not muss man dann halt in dem Bezirk, wo etwas schief läuft, noch mal von vorn anfangen und die Wahl wiederholen.

In einem Schulungsseminar hört sich Newton (Rajkummar Rao) das Prozedere genau an, fragt dann aber nach, was passiert, wenn auch die Wiederholung sabotiert wird. Und die danach...

Es gibt viele idealistische Wahlhelfer im Land, die alles für die korrekte Durchführung machen würden. Ein beispiel führt uns der Film vor. Doch als der so superakkurate Mann erfährt, welche Dschungelregion ihm zugeteilt wurde, fallen ihm plötzlich Umstände ein, die es ihm unglücklicherweise unmöglich machen, dort seinen Job zu verrichten. Und so landet Newton, ein Nachrücker, an seiner Stelle und wird mit einem Helikopter bei einer Militäreinheit abgeliefert, um bis zu 96 Stimmen unter erschwerlichen und gefährlichen Bedingungen zu sammeln.

Newton (Amit V Masurkar, Forum)

Courtesy Drishyam Films

Selbst ohne das geringste Vorwissen entwickelt die Geschichte ihre politische Brisanz. Nach und nach begreift man, wer hier mit welchen Mitteln was zu erreichen versucht. Und irgendwo mittendrin steckt Newton, ein superkorrekter Paragraphenreiter, der es vermutlich sogar auf sich nehmen würde, für ein paar Stimmen der Dschungelbewohner, die von keinem der Kandidaten je gehört haben, als Märtyrer for the greater good einzutreten.

Das Famose an dem Film: trotz der Gefahr und der politischen Botschaft ist das Ganze auch eine tolle Komödie, denn Sonderling Newton, der gerade noch eine arrangierte Hochzeit ablehnte, bekommt im Dschungel eine regionale Assistentin zugewiesen, fachsimpelt mit erfahrenen Wahlhelfern, kämpft an allen Fronten, und trotz eher bescheidener Mittel wird daraus ein Film mit einem immensen Charme. Quasi was zum Spielen, Schokolade und eine Überraschung.

Und so geht es hierzum einen zwar um die dräuende Gefahr der bewaffneten Maoisten oder die vom Militär zusammengescheuchten und eingeschüchterten indigenen Minderheiten, aber auch Diabetes, Notdurft im Dschungel, Englischlernen via Filmdownloads auf dem Smartphone, ein nicht den Statuten entsprechendes Wahllokal, vernünftigen Moskitoschutz und allerlei Besonderheiten. Und das will ich alles nicht kaputterklären, das sollte man erleben. Der von mir nur noch selten angetretene Beweis, dass manchmal auch ein Berlinale-Film ein echtes »Fundstück« sein kann, wenn man ihn gänzlich aufgrund des Zeitplans zwischengeschoben hat.

Geheimtip! Und der Gegenentwurf zu all jenen Filmen, die zwanghaft versuchen, aus »Themen« einen Film zu basteln. Hier sind die Adivasi (so heißen die indigenen Dschungelbewohner) zwar ein wichtiger Teil der Geschichte, und man lernt auch etwas über sie, aber wie sie clever in die Filmhandlung eingearbeitet sind, ist der eigentliche selling point. Lehrreich, unterhaltsam und - ich wiederhole mich - einfach ein Glücksfund.


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Back for Good
(Mia Spengler, Perspektive Deutsches Kino)

Deutschland 2017, Buch: Stefanie Schmitz, Mia Spengler, Kamera: Falko Lachmund, Schnitt: Linda Bosch, Gregory Schuchmann, Musik: Marc Fragstein, Kostüme: Tina Eckhoff, Szenenbild: Uli Friedrichs, Kim Riedle (Angie), Juliane Köhler (Monika), Leonie Wesselow (Kiki), Nicki von Tempelhoff (Drew), Emma Drogunova (Coco Cain), Hanife Sylejmani (Sanny), Anna Oussankina (Ginny), Lena Thom (Ivy), Arndt Schwering-Sohnrey (Dschungel-Micha), Ulrike Krumbiegel (Yvette), 91 Min.

Angie (Kim Riedle) ist ein nicht mehr taufrischer Reality-TV-Star (»Playmate 2011« wirkt eher wie ein euphemisierter Meilenstein ihres Lebenslaufs), sie hat gerade einen Drogenentzug hinter sich, der ihr den Weg zu einem Auftritt im Dschungelcamp bahnen sollte. Nach mehreren erfolglosen Anrufen, um eine Übernachtungsmöglichkeit zu erhaschen, ist sie gezwungen, zu ihrer Mutter Monika (Juliane Köhler) zurückzukehren, wo aber immerhin auch ihre 14jährige Schwester Kiki (Leonie Wesselow) wohnt, in deren Zimmer sie gleich ihre Luftmatratze aufbaut.

Angie ist mitunter etwas rabiat im Umgangston, als sie Kiki mit Latzhose und Cowboyhut in ihrem Zimmer tanzend auffindet, fragt sie burschikos »Ist Fasching?« obwohl ihr Bling-Auftritt mit langen Nägeln und nur bedingt zu ihrem Alter passenden Farbtönen weitaus lächerlicher wirkt.

Back for Good (Mia Spengler, Perspektive Deutsches Kino)

© Zum Goldenen Lamm

Am störendsten an Kikis Western-Outfit (zusammen mit Monika ist sie in einer Linedance-Gruppe engagiert) ist aber ein eigentümlicher »Schutzhelm«, denn Kiki hat hin und wieder epileptische Anfälle und ihre Mutter (die übrigens mit einem Langzeit-EKG unterwegs ist, als wäre die Krankheitsgeschichte ein gemeinsames fashion statement der Familie) ist sehr besorgt.

Mit dem blöden Helm ist Kiki indes das Opfer von Real-Life- und CyberMobbing, und ausgerechnet ihre Schwester, nicht das tollste Vorbild, was man sich für eine junge Frau vorstellen kann, gibt ihr Ratschläge.

Back for good beginnt wie eine seltsame Mischung aus Fremdschämen und Voyeurismus (Angies Urinprobe zeigt man fast im Close-Up), doch auch wenn man Angie ganz sicher nicht als Familienmitglied begrüßen würde (ob in der eigenen Wohnung oder sonstwo) und sie so viel Taktgefühl besitzt wie ein defekter Presslufthammer (einmal schiebt sie einem übergewichtigen Teenager ein halbes Mettbrötchen in die Unterhose), so entwickelt man doch eine gewisse Identifikation mit der Person.

Im Gegensatz zu all den Danielas, Veronas und Gina-Lisas zwischen RTL und VOX lernt man Angie nämlich nicht als eine sich vermarktende Selbstdarstellerin kennen, sondern als eine reale Person, der man trotz vieler verunglückter Karriereentscheidungen etwas Glück gönnt.

Das dieses ausgerechnet in der Gestalt des abgetakelten Schlagerneulings Drew (eigentlich Andreas) daherkommen soll, den Angie noch aus seiner Zeit bei der Boyband »Boyz R 2 cool 4 School« kennt, wirkt unwahrscheinlich, aber wie das Drehbuch solche absurden Figuren ersinnt, ist schon bemerkenswert.

Eine Gleichaltrige, die Kiki besonders zu schaffen macht, ist die durch einen Youtube-Kanal bekannte »Coco Cain«, die Angie ausgerechnet vor dem Waxingstudio ihrer alten Freundin »Sanny« (ihr Studio heißt »SexyWaxy Sanny Style«) kennenlernt, wo sie darüber aufgeklärt wird, dass diese Klientin sich den internen Spitznamen »Chewbacca« aufgrund ihrer Rückenbehaarung verdient hat.

Mit solchen Informationen hat man einen guten Einblick, auf welchem Niveau der Film sich so generell bewegt. Ob Drew vor ausflippenden Vierzigjährigen in einem Baumarkt sein Album vorstellt, Kiki als »Kiki Ketamin« eine neue Youtube-Karriere beginnt (wie gesagt, der Einfluss Angies ...) oder es zum Eklat bei den Linedancer kommt, die gleichzeitig wie eine Tupperware-Party mit Verkostung von Prosecco (ausgesprochen: »Pro-Setsch-Ko«) und Weizenbier auftreten, der Film macht es sich und seinem Publikum nicht leicht.

Umso bemerkenswerter, wenn dieser Nachwuchsfilm alles erreicht, was man sich so vorgenommen hat - und eine tiefempfundene Menschlichkeit ausstrahlt. Back for Good wirkt wie ein Gegenversuch wie der letztjährige Perspektive-Beitrag Lotte - eine ganz ähnliche Generationengeschichte zwischen Frauen, aber in einem komplett anderen Milieu. Und beide können bestehen und unterhalten.


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Django
(Etienne Comar, Wettbewerb)

 
Letzte Vorführung:
  • Donnerstag, den 16. Februar um 18 Uhr 30 im Haus der Berliner Festspiele


Frankreich 2017, Buch: Etienne Comar, Alexis Salatko, Kamera: Christophe Beaucarne, Schnitt: Monica Coleman, Musik: Django Reinhardt (aufgeführt vom Rosenberg Trio), Warren Ellis, Kostüme: Pascaline Chavanne, Production Design: Olivier Radot, mit Reda Kateb (Django Reinhardt), Cécile de France (Louise), Beata Palya (Naguine), Bim Bam Merstein (Negros), Gabriel Mirété (La Plume), Vincent Frade (Tam Tam), Johnny Montreuil (Joseph Reinhardt), Raphaël Dever (Vola), Patrick Mille (Charlie Delaunay), Alex Brandemuhl (Hans Biber), Ulrich Brandhoff (Hammerstein), Jan Henrik Stahlberg (Dietrich / Dr. Jazz), 120 Min.

Es gibt so typische Merkmale von Wettbewerbseröffnungsfilmen in der Regentschaft Kosslick. Es müssen nicht alle Regeln befolgt werden, aber die meisten erkennt man Jahr um Jahr wieder.

  • ein Muss: irgendeine politische Relevanz (zur Not reicht da aber auch so was wie die Rahmengeschichte von The Grand Budapest Hotel)
  • der Regisseur darf bekannt sein, ein paar bekannte Darsteller für den Roten Teppich sind Pflicht
  • immer gern gesehen: Internationale Koproduktionen mit deutscher Beteiligung

Django passt dieses Korsett wie maßgeschneidert: Ein Biopic über eine Persönlichkeit, die noch nicht filmisch durchgekaut ist und noch dazu zu einer Minderheit gehört. Die Karriere des Romani Django Reinhardt (1910 - [Spoiler-Alarm] 1953), dem historisch wohl erste Gitarren-Star, wurde Ende des zweiten Weltkriegs im besetzten Frankreich empfindlich gestört.

Und zwar natürlich von den Nazis, was deutschen Schauspielern die Möglichkeit gibt, im Film aufzutreten (mir hat übrigens besonders gefallen: Jan Henrik Stahlberg aus Muxmäuschenstill, der seine Nazifigur besonders hübsch schleimig umgesetzt hat).

Ich bin nicht im Auswahlgremium der Berlinale, mir würde es statt der oftmals anstrengenden political correctness (laut U-Bahn-Fernsehen war Reinhardt ein Sinti, laut wikipedia ein Romani, im englischsprachigen Presseheft bevorzugt man den Begriff »gypsy« - was sich alles nicht gegenseitig ausschließt, soweit ich das verstanden habe, aber irgendwie schon die Arbeit eines Journalisten überschattet, der sich eigentlich um andere Dinge kümmern will) eher um künstlerische und filmische Belange gehen. Immerhin gab es davon auch einige im Film.

Django (Etienne Comar, Wettbewerb)

© Roger Arpajou

Die Einstiegsszene ist beispielsweise noch relativ spannend. Eine Old-School-Wohnwagenburg (also eher an Western als an Holland denken) mitten im Wald (Juni 1943 in den Ardennen). Am Lagerfeuer wird virtuose Zigeunermusik gemacht, auffällig dabei: ein ziemlich alter, offensichtlich blinder Gitarrist. Dann sieht man im Wald junge Leute Reisig sammeln, bis irgendwo ein Ast knackt und die Atmosphäre umspringt. Angst in den Gesichtern, dann eine wohl nazideutsche Pistole an einer Stirn, die Szene endet mit einem Kopfschuss des blinden Mannes. Dummerweise ist dies nur ein Prolog, der mit der eigentlichen Geschichte wenig zu tun hat (Django erfährt später vom Tode von »Blind Man Weiss«), in der Haupthandlung kommt die Spannung weitaus mühseliger in Gange.

Ach ja, ich war bei den filmisch tollen Ideen. Im letzten Drittel des Films verschlägt es Djangos Familie in die Nähe von Thonon-les-Bains, und er steht in einer malerischen, an Caspar David Friedrich erinnernden Einstellung vor dem Genfersee, der die Gruppe von der Freiheit in der Schweiz trennt. Der See wird noch mehrfach in Szene gesetzt, aber wenn er dabei beispielsweise so im Nebel verschluckt wird, dass man nur ein paar knorrige Äste erhascht (Ingmar Bergman lässt grüßen!), sagt das auch viel darüber aus, wie sich die Geschichte weiterentwickelt.

Meine liebste Stelle im Film ist eine Ellipse im Schnitt. Einer der Pläne, den Nazis zu entkommen, hat nicht so geplant, ein Opfer, das größere Konsequenzen zu erwarten hat, wird von einem Uniformträger zu Boden gestoßen - und dann gibt es eine kolossale Schnittkante und ein ganzes Fegefeuer ereilt eine kleine fahrende Siedlung. Das was man nicht zeigt, ist oft viel einprägsamer als was man zeigt.

Leider waren das auch schon die Momente, die sich aus diesem Film im Gedächtnis festsetzen. Das größte Problem war für mich der Umstand, dass weder die männliche noch die weibliche Hauptrolle wirklich meine Empathien auf sich zogen. Django (Reta Kateb) ist ein egoistischer und dabei unglaublich naiver Musiker, der den Krieg quasi so lange ignoriert, bis - in einer verquasten, halbgeträumten Szene - sein geliebter kleiner Affe Joko stirbt. Obwohl er mit einer frisch geschwängerten Frau zusammenlebt, stellt man ihm Cécile de France als Louise zur Seite, die mich in dem historischen Setting so wenig überzeugt hat wie noch nie. Ich musste dabei dauernd an Diane Kruger und Inglourious Basterds denken, nur dass man hier mit der Opportunistin / Nazi-Schlampe / Doppelagentin (?) mitfiebern soll, aber weder die Chemie oder Leidenschaft stimmt, noch es einem so leicht wie Django fällt, seine Frau Naguine (Beata Palya) einfach zu vergessen. Wenn er diese (wie gesagt hochschwanger) und seine betagte Mutter (beste Schauspielerin des Films: Bim Bam Merstein) später zurücklässt mit der sich gegenseitig in-die-Tasche-gelogenen Versprechung, dass Kontaktmann/Schlepper »Nachtigall« sich schon um die beiden kümmern wird (durch besondere Fähigkeiten hat der sich im Film nie ausgezeichnet), dann ist auch noch mein letztes Fünkchen Sympathie für diese Figur verlöscht, die hübsche closure der Schlussszene ändert daran nicht das Geringste, weil alles viel zu artig arrangiert wirkt, um einen Erziehungsauftrag eines Bildungsbürger-Fernsehsenders zu erfüllen (keine Ahnung, wer hier mitproduziert hat, es geht mir um den Eindruck, nicht um wirkliche Produktionsumstände).

Dass man sich auf wenige Jahre im Leben Reinhardts konzentriert, die Geschichte fein in ein historisches Umfeld einbettet usw. Wirkt zwar clever, aber was hier sehr sehr vermisst wird, ist ein Wiederentdecken der Eigenschaften seiner Musik in den Eigenschaften der Inszenierung. Man kommt der Musik weitaus näher als der Figur oder der Handlung.

Und damit erfüllt der Film immerhin das, wofür Berlinale-Eröffnungsfilme gemacht zu sein scheinen: Uns daran zu erinnern, was uns bevorsteht. Oren Movermans The Dinner war übrigens inszenatorisch viel besser umgesetzt, aber die ganze listenmäßige Abhakerie wichtiger »Themen« hat mich dabei so sehr genervt (obwohl ich den Regisseur und einige der Darsteller wirklich mag), dass ich mich dann trotz gut dreieinhalb mitgeschriebenen Seiten dafür entschieden habe, dazu nichts zu schreiben, weil mir das einfach die Stimmung und somit irgendwie auch die gesamte Berlinale verhagelt.

Fazit: Eröffnungsfilm - business as usual - hätte noch viel schlimmer kommen können.


Bald in Cinemania 162 (ForumPlus):
Berlinale-Kritiken zu Casting (Nicolas Wackerbarth, Forum), Dayveon (Amman Abbasi, Forum), Motza el hayam / Low Tide (Daniel Mann, Forum), Set (Peter Miller, Forum Expanded), Somniloquies (Verena Paravel & Lucien Castaing-Taylor, Forum) und Tiere (Greg Zglinski, Forum).