Anzeige:
Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




30. September 2015
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Alles steht Kopf (Pete Docter)


Alles steht Kopf
(Pete Docter)

Originaltitel: Inside Out, USA 2015, Co-Regie: Ronnie del Carmen, Buch: Pete Docter, Meg LeFauve, Josh Cooley, Schnitt: Kevin Nolting, Musik: Michael Giacchino, mit den Original- / deutschen Stimmen von Amy Poehler / Nana Spier (Joy / Freude), Phyllis Smith / Philine Peters-Arnolds (Sadness / Kummer), Bill Hader / Olaf Schubert (Fear / Angst), Lewis Black / Hans-Joachim Heist (Anger / Wut), Mindy Kaling /Tanya Kahana (Disgust / Ekel), Kaitlyn Dias / Vivien Gilbert (Riley), Diane Lane / Bettina Zimmerman (Mom), Kyle MacLachlan / Kai Wiesinger (Dad), Richard Kind / Michael Pan (Bing Bong), sowie Franz Oz, Flea, John Ratzenberger, Rashida Jones, Pete Docter bzw. Dietmar Bär, Katja von Garnier und Klaus J. Behrend, 94 Min., Kinostart: 1. Oktober 2015

Pixartechnisch ist dieser Herbst etwas besonderes, denn schon acht Wochen nach Inside Out kommt Ende November mit The Good Dinosaur der zweite Pixar-Langfilm des Jahres (und Disney hat die Pressevorstellungen des zweiten Films wohl absichtlich hinter den Kinostart des ersten gesetzt, um durch direkte Vergleiche keinem der Filme zu schaden). Ich für meinen Teil habe mir noch nicht einmal einen Trailer von The Good Dinosaur angeschaut, weil Pixar-Filme für mich einfach zum (freudigen) Pflichtprogramm gehören, und ich vorher gar nicht zu viel wissen will. Es gibt zwar Pixar-Filme, die ich nicht so sehr liebe wie andere (beispielsweise Cars und A Bug's Life), aber ich möchte keinen einzigen missen.

Inside Out hat den Vorteil, dass die Prämisse mal wieder so genial ist wie bei Toy Story oder Monsters, Inc. – und dabei noch eine ganze Ecke gewagter, abstrakter und nicht automatisch kindertauglich. Und wenn Pixar-Filme sich mal ein wenig vom vermeintlichen Zielpublikum entfernen (vgl. den Anfang von Up oder das Ende von Wall-E), werden sie dadurch nur interessanter.

Alles steht Kopf (Pete Docter)

Bildmaterial © Walt Disney Studios · Pixar

In diesem Fall hat man zwar eine kindliche Hauptfigur, diese wird aber eher wie ein »Behältnis« behandelt, in dessen Kopf (oder Schaltzentrum) personifizierte Kerngefühle um das seelische Wohlbefinden der kleinen Riley kämpfen. Also eine psychologische Weiterentwicklung von humoristisch bereits erprobtem Material wie dem alten Otto-Waalkes-Sketch (»Kleinhirn an Milz«) oder Woody Allens neurotischer Spermien in Everything you always wanted to know about Sex (but were afraud to ask).

Die eigentlichen Hauptfiguren muss man mal kurz vorstellen. Deutlich im Vordergrund steht Joy, ein superschlankes gelbes Wesen in lindgrünem Dress, mit kugelrundem Gesicht, großen Kindchenschema-Augen, die genau so blau sind wie die Kurzhaarfrisur. Es wird schnell deutlich, dass Joy hier als Rollenfigur auftritt, die die Wünsche von Rileys Eltern und Riley selbst vertritt. Es ist sicher kein Zufall, dass man als Beschreibung der ganz kleinen Riley entsprechend hört, sie sei ein »little bundle of joy«.

Alles steht Kopf (Pete Docter)

Bildmaterial © Walt Disney Studios · Pixar

Fast genauso wichtig wie Joy ist Sadness, und die gemeinsame Rolle dieser beiden Figuren im Drehbuch wird schon durch die bei Sadness eher melancholisch wirkende Farbwahl unterstrichen. She's a little blue. Außerdem trägt Sadness als einzige der fünf eine Brille und wirkt etwas übergewichtig, was sich auch in der Kleiderauswahl spiegelt. Statt eines leichten Sommerkleides trägt sie einen dicken Rollkragenpullover. Das impliziert auch gleich ein wenig Phlegma und Schwerfälligkeit im Kontrast zur tänzelnden, immer gutgelaunten Fee namens Joy. Die anderen drei »Gefühle« haben eher Nebenfigurencharakter, Disgust ist natürlich giftgrün und ist beispielsweise dafür da, Riley vor Broccoli zu warnen (hier wählen die Pixar-Filmemacher den anti-pädagogischen Weg, ich persönlich würde Broccoli – und Rosenkohl zu meinen liebsten Gemüsesorten zählen, und Eltern, die vorhaben, diesen Film mit ihren Kindern zu sehen, werden an dieser Stelle inständig von mir gebeten, ihren Zöglingen zuvor dieses tolle Grünzeug nochmal schmackhaft zu machen, falls dies noch nicht passiert ist – denn es stimmt nicht immer alles, was in einem Film passiert oder behauptet wird). Neben diesen drei weiblichen Figuren gibt es auch noch zwei Kerle in der mentalen WG, zum einen Fear (in kränklichem violett und angezogen wie Gottlieb Wendehals), der quasi die selbe Rolle wie Disgust bekleidet (wenn's brennt: vom Acker machen; wenn man in den dunklen Keller gehen soll: womöglich die Angst überwinden). Und in Rot (bei den Teletubbies noch die beliebteste und kleinkindgerechteste Farbe) tritt Anger auf, ein kompakter (»short – and short-tempered«) Machotyp im Büro-Look, dessen Oberstübchen mitunter explodiert wie ein Vulkan.

Alles steht Kopf (Pete Docter)

Bildmaterial © Walt Disney Studios · Pixar

Diese fünf durchleben also Abenteuer auf dem Weg, aus einem durch einen Umzug und ein paar Missverständnissen beinahe traumatisierten Mädchen eine balancierte und gefestigte Persönlichkeit zu machen. Dabei werden diverse Vorgänge mit einem pixartypischen Reichtum an Ideen visualisiert wie einst bei Woody Allen eine Erektion durch eine aufzurichtenden Kran dargestellt wurde. Und diese Geisteslandschaft höchstpersönlich zu erforschen ist ein Vergnügen, das ich keinem Zuschauer nehmen will. Wenn man dies versuchen würde, würde dieser Text auch sehr schnell sehr kompliziert werden – und der Film ist eigentlich das Gegenteil davon.

Alles steht Kopf (Pete Docter)

Bildmaterial © Walt Disney Studios · Pixar

Ich muss zugeben, dass meine Erwartungen an diesen Film noch eine Spur höher waren als das, was abgeliefert wurde. Hier und da leidet das Skript ein wenig darunter, dass gewisse Probleme auf ganz spezifische Weise behandelt werden.


* Meine beiden liebsten Pixar-Filme, Monsters, Inc. und Up, stammen übrigens beide vom Regisseur von Inside Out, Pete Docter.

Aber was den Film dann durchaus auszeichnet (gerade auch im Kindersektor), ist die Ambivalenz im Gendersektor. Wie bereits erklärt, sind Rileys fünf personifizierte Gefühle nicht einfach alle weiblich wie sie selbst, sondern 3:2 aufgeteilt. Das zeugt davon, dass das Kind sich noch frei entwickeln kann. Wenn man die »Gefühle« von Rileys Eltern (oder ihrer Lehrerin) betrachtet, gibt es zwar noch deutlich erkennbar die farbliche Aufteilung, aber die bei Riley so unterschiedlich wirkenden Figuren sind bei den Erwachsenen sehr viel »ähnlicher« und oft auch mit den selben Geschlechtsmerkmalen wie der oder die Person, die sie vertreten. Bei Rileys Mutter tragen alle fünf eine Brille, Sadness scheint hier die Anführerin zu sein. Bei Rileys Vater wirkt Disgust eine Spur weiblicher als die anderen vier – aber alle tragen den selben Schnurrbart wie Paps – und erinnern in der Physiognomie ein wenig an Riley »Anger« – wenn der auch (noch) keine Gesichtsbehaarung hat. Diese im Detail zu beobachtende Abkehr vom immer noch vorherrschenden Heterozentrismus. Dies wird nur ein wenig durch eine eher unabsichtlich wirkende Botschaft sabotiert, die gerade kleine weibliche Zuschauer erreichen könnte: Am besten setzt man Wünsche durch Heulen durch. Wie gesagt, hier und da hakt es für mich in dem Film, aber aktuell würde ich Inside Out in meiner persönlichen Pixar-Liste auf Platz 8 setzen*. Bei 15 Langfilmen also exakt in der Mitte. Und hierbei darf man nicht vergessen: was innerhalb von Pixar Durchschnitt ist, macht in der Gesamtheit des Kinoprogramms fast schon die Elite aus.

Lava (James Ford Murphy)

Bildmaterial © Walt Disney Studios · Pixar

Der Vorfilm (Standard bei Pixar) heißt diesmal Lava (Regie: James Ford Murphy) und erzählt mit hawaiianischer Musik die Liebesgeschichte zweier Vulkane. Kein epochales Meisterwerk, aber sehr hübsch und thematisch fast ein wenig gewagt.