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Sofie Lichtenstein: Bügeln. Protokolle über geschlechtliche Handlungen




11. Dezember 2013
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Blau ist eine warme Farbe (Julie Maroh)
Comic: Blau ist eine warme Farbe (Julie Maroh)
Originaltitel: Le bleu est une couleur chaude, Frankreich 2010, deutsch ab 1. Dezember 2013 beim Splitter-Verlag, Übersetzung: Tanja Krämling, Lettering: Sven Jachmann, 156 S., 19,80 Euro
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Blau ist eine warme Farbe (Abdellatif Kechiche) Film: Blau ist eine warme Farbe (Abdellatif Kechiche)
Originaltitel: La vie d'Adèle – chapitres 1 & 2, Frankreich / Belgien / Spanien 2013, Buch: Abdellatif Kechiche, Ghalia Lacroix, Comic-Vorlage: Julie Maroh, Kamera: Sofian El Fani, Schnitt: Sophie Brunet, Ghalia Lacroix, Albertine Lastera, Jean-Marie Lengelle, Camille Toubkis, mit Adèle Exarchopoulos (Adèle), Léa Seydoux (Emma), Sandor Funtek (Valentin), Jérémie Laheurte (Thomas), Aurélien Recoing (Adèles Vater), Catherine Salée (Adèles Mutter), Anne Loiret (Emmas Mutter), Benoît Pilot (Emmas Stiefvater), Salim Kechiouche (Salim), Benjamin Siksou (Antoine), Mona Walravens (Lise), Alma Jodorowsky (Béatrice), Fanny Maurin (Amélie), Maelys Cabezon (Laetitia), Samir Bella (Samir), Philippe Potier (Französischlehrer »Marivaux«), Virginie Morgny (Französischlehrerin »Antigone«), Aurelie Lemanceau (Sabine), 179 Min., Kinostart: 19. Dezember 2013


Comic & Film:
Blau ist eine warme Farbe

Preisgekrönt sind die Comicvorlage und die Verfilmung bereits beide. Julie Marohs Erstlingswerk mit dem »Prix du Public« beim Comic-Festival in ihrer Heimatstadt Angouleme, Abdellatif Kechiches Verfilmung (gemeinsam mit den beiden Hauptdarstellerinnen) mit der »Goldenen Palme« beim Filmfestival in Cannes.

Ein gemeinsamer vergleichender Text eignet sich am besten, um die unterschiedlichen Stärken (und gegebenenfalls Schwächen) der beiden Werke herauszuarbeiten. Einzelne Absätze werden sich stärker auf den Comic oder den Film beziehen, wobei die »Filmabsätze« weiter nach rechts abgerückt sind. Und entsprechend der chronologischen Abfolge und der westlichen Lesart von links nach rechts stehen die Comic-Absätze somit also links. Die Adressierung der gedachten Rezipienten in unterschiedlichen Geschlechtern (»die Leserin« aber »der Zuschauer«) mag wie eine arbiträre Spielerei wirken, entspricht aber mindestens dem Geschlecht der Autorin / des Regisseurs und Drehbuchautors. Mindestens.

Dass es Unterschiede zwischen den Werken gibt, betont Regisseur und Drehbuchautor Kechiche schon durch seine Wahl des Titels, der sich auffallend von der Comic-Vorlage distanziert (ein Detail, das sich dem deutschen Kinobesucher nicht automatisch offenbart, denn hierzulande gleichen sich die Werke nicht nur beim Design von Cover bzw. Plakat, der Titel ist ebenfalls identisch). Offensichtlich ist außerhalb des Ursprungslandes die Vermarktungsstrategie wichtiger als der dezidierte Wunsch des Regisseurs. Zunächst einmal heißt die Titelfigur bei La vie d'Adèle exakt wie die Darstellerin Adèle Exarchopoulos.

Im Comic ist ihr Name Clementine.

Dann gibt es da noch den mysteriösen Zusatztitel »chapitres 1 & 2«. Dem Zuschauer wird es schwerfallen, in der Struktur des Films zwei Kapitel zu entdecken, meine Annahme ist eher, dass diese Titelwahl implizieren soll, dass der Film nur die ersten Stadien im Leben der Adèle beschreibt, weitere Kapitel hingegen offen gelassen werden.

Denn der zweite auffallende Unterschied zur Comic-Vorlage ist das vergleichsweise offene Ende, wo der Comic in mehrfacher Weise ein konkretes Ende thematisiert. Die ersten Worte des Comics – in Captions, die sich quasi augenblicklich als gelesene Zeilen offenbaren, lauten »Meine Liebste, wenn du diese Worte liest, werde ich diese Welt verlassen haben.« Dieser Brief endet mit den Worten »Ich liebe dich, Emma. Du bist mein Leben.« An dieser Stelle sind wir auf Seite 3 (von 156) des Comics, die Adressantin Emma hat bereits die Mutter der Absenderin besucht, die ihr Zugang zur Wohnung der offenbar Verstorbenen verschafft, und auf Seite 4 beginnt Emma (die dadurch in eine parallele Perspektive zur Leserin gestellt wird) mit der Lektüre von drei Tagebüchern (das erste hat die Farbe Blau, darunter sieht man noch ein grünes und rotes).

Der Film verzichtet nicht nur auf diese Rahmengeschichte, auch die Tagebücher spielen keine Rolle und es gibt keinen (zumindest im Medium Film oft aufdringlich oder störend wirkenden) Voice-Over-Kommentar, auch wenn die Perspektive dieselbe ist und der Film, in Kenntnis beider Texte betrachtet, die Gegenüberstellung der Briefzeile »Du bist mein Leben« und der Tagebuchlektüre quasi zum Anlass für den veränderten Titel nimmt.

Wenn es möglich ist, im Kontext des Comics die Tagebücher außerhalb der Rahmenhandlung zu betrachten, so könnte man argumentieren, dass Clementine in den Tagebüchern – wie im Film – nicht stirbt. Das ist ja auch ein Merkmal von Tagebüchern, dass ein Abbrechen des Textes höchstens implizit den Tod der Verfasserin bedeuten kann, niemand ist in der Lage, die letzten Momente in Worte zu fassen, das ist auch beim bekanntesten Tagebuch der Literaturgeschichte, dem von Anne Frank, der Fall. Der Rest ist Schweigen, aber falls dann eben noch ein »Kapitel 3« auftaucht, wird dieses Schweigen wieder unterbrochen.

Blau ist eine warme Farbe

Ein weiteres, für das Medium sehr spezifisches Merkmal des Comics ist kaum zu übersehen und sehr symbolkräftig. Während die Rahmenhandlung auf den ersten dreieinhalb Seiten (und hin und wieder zwischendurch) von Julie Maroh mit unaufdringlichen, aber klar vorhandenen Farben gestaltet ist (das komplette Werk zeichnet sich durch eine erkennbare »Line Art« aus, die aber durch atmosphärische Aquarell- oder Tuschetöne unterstützt wird), beschränkt sich die Künstlerin innerhalb der Tagebucherzählung auf Schwarz, Weiß und diverse Grautöne, einzig die vermeintlich »warme Farbe« Blau durchbricht diese strenge Regel. Das erste Tüpfelchen Blau in der Tagebucherzählung ist das Tagebuch selbst (das erste Tagebuch war ein Geschenk zum 15. Geburtstag, am 12. Oktober 1994 setzt auch die Geschichte in der Geschichte ein), natürlich wird auch der erste zufällige Blickkontakt zwischen Clementine und Emma durch Emmas blaue Haare deutlich hervorgehoben, im Comic spielt aber die Farbe Blau noch eine weitergehende Rolle, was sich unter anderem daran festmachen lässt, dass auch Thomas, Clementines (und Adèles) erster Freund, durch einen blauen Pullover (und das noch vor dem ersten Auftreten von Emma!) besonders hervorgehoben wird.

Blau ist eine warme Farbe

Falls Thomas im Film je einen blauen Pullover trägt, so ist es mir nicht weiter aufgefallen. Ich bin mir aber einigermaßen sicher, dass Kechiche sich von dieser auffälligen Symbolfarbe (sein Film ist durchgehend farbig, gerade bei einigen Momenten im Park möchte man diese Farbe auch nicht missen), die auch eine gewisse romantische Ader der jungen Comickünstlerin verkörpert, bewusst distanziert hat.

Im Comic steht die Farbe Blau eigentlich immer für die Liebe (manchmal auch als Lust zu interpretieren). Im Fall des Tagebuchs ist die Farbwahl natürlich nicht selbstgewählt (es ist ein Geschenk der Oma, einer ansonsten kaum in Aktion tretenden Figur – auch, wenn es im Nachhinein wichtig ist, dass Clementines Eltern damit nichts zu tun haben), auch wenn man spekulieren darf, dass die Großmutter bei einem kaum der Kindheit entwachsenen Kind noch weiß, welches die Lieblingsfarbe sein könnte. Erst retrospektiv betrachtet (»Du bist mein Leben«) steht das Tagebuch aber natürlich ebenfalls für die Liebe. Ganz wie die erste Liebe Thomas, der übrigens beim ersten gemeinsamen Date (auf dem Weg dorthin findet der erste Blickkontakt mit der blauhaarigen Emma statt) kein blaues Kleidungsstück trägt (auch wichtig für die Farbe als Entsprechung eines Amorpfeils). Wichtig ist im Comic auch, das gleich im Anschluss an den denkwürdigen Blickwechsel die Tagebucherzählung unterbrochen wird, und man wieder Emma (mittlerweile mit blonden Haaren, aber einem blauen Pullover, der auch innerhalb der Farbseiten Symbolcharakter behält) in Clementines Zimmer sieht, einen kurzen Wortwechsel mit der Mutter hat (»Sagen sie ihm [Clementines Vater] einfach, dass, wenn ich ein Junge gewesen wäre, Clem sich auch in mich verliebt hätte«) und dann diesen Augenblick im Leben beider jungen Frauen zum Schlüsselmoment macht: »Ich habe nie 'die kleine Brünette vom großen Platz' vergessen.«

Nach dieser wichtigen Feststellung kehrt die Erzählung zum Nachmittag mit Thomas zurück, der (übrigens ohne Worte) auf einer Seite durch viele Momente, die durchaus aus der Montagesequenz eines Liebesfilms stammen könnten, erzählt wird. Hier kommt auch die einzige Stelle des Comics, bei der der Einsatz der Farbe Blau den Interpretationsaufwand der Leserin fordert: Für zwei kleine Panels sieht Clementine in einer Menschenmenge ein Kind an der Hand der Mutter, in der anderen Hand trägt es einen blauen Luftballon. Dies kann man etwa so verstehen, dass ihr ungeachtet des schönen Nachmittags mit Thomas auffällt, dass »die Farbe der Liebe« momentan fehlt. Wenn man jedoch etwas weiter greift (und in seiner Adaption geht Abdellatif Kechiche diesen Weg), ist auch das Kind an sich eine Sehnsucht im Leben Clementines, die später Lehrerin wird und bei einem wichtigen Strandausflug später Emma beobachten wird, wie sie eine Sandburg baut. Und für einen winzigen Augenblick wird hier die Vision eines Kindes auftauchen, das dabei hilft.

Blau ist eine warme Farbe

Comicabbildungen Copyright 2013 Splitter


Die Verfilmung hält sich lange Zeit recht genau an die (Tagebuch-)Vorlage, und die auffällig lange Filmlänge (auch wenn Kechiche sich in seinen Filmen seit La graine et le mulet immer stärken an der Drei-Stunden-Markierung orientiert hat) gibt dem Film auch die Möglichkeit, viele Momente deutlicher als im Comic herauszuarbeiten. Die Art und Weise, wie erst Adèles Schulkameradinnen sie auf Thomas' Interesse an ihr aufmerksam machen (im Comic kaschiert die Signalfarbe dies etwas), die hervorragend ausgearbeiteten Dialoge, die im Film nicht so zentral auftretende Figur von Adèles (und Clementines) schwulen gleichaltrigen Freund Valentin (a shoulder to cry on, an ear to listen). Man merkt hier auch, dass Kechiche, wie schon in L'esquive bewiesen, ein Händchen für jugendliche Laiendarsteller und die Darstellung des Schulalltags hat.

Im Comic ist es zwar so, dass die Autorin jünger ist und eigene autobiographische Momente mit in ihre Erzählung einfließen lassen konnte, doch der sich wie nebenbei entwickelnde Dialog ist nicht unbedingt Julie Marohs Stärke (insofern ich mich erdreisten kann, dies anhand der deutschen Übersetzung zu beurteilen). Es geht ihr um eine ganz konkrete Geschichte und meistens kommt sie dabei auch sehr schnell zum Punkt. Dies ist aber auch ein Hauptunterscheidungsmerkmal, denn Marohs Geschichte steht in einem romantischen und persönlichen Kontext, während Kechiche, auf dieser Grundlage aufbauend, die Atmosphäre stärker ausbaut.

Blau ist eine warme Farbe

Filmbilder Copyright 2013 Alamodefilm


Bei der Sache mit Thomas fühlte ich mich im Film sehr an François Ozons Jeune & jolie erinnert. Wie dort muss die Entjungferung erst einmal »abgehakt« werden, eh sich die Protagonistin mit der Entdeckung oder Ausprägung ihrer Sexualität beschäftigen kann. Ebenfalls in beiden Filmen gibt es vor der Entjungferung eine Masturbationsszene, die insbesondere bei Ozon den Wunsch nach Intimität visualisiert. Bei Kechiche ist diese Masturbationsszene bereits recht graphisch, baut aber ganz wie im Comic darauf auf, dass Adèle (oder Clementine) eine Fantasie mit der Frau mit den blauen Haaren hat, was durch einen kurzen Zwischenschnitt auf die »Erinnerung« deutlich wird.

Im Comic liegt Clementine im Anschluss an den Nachmittag mit Thomas im Bett und erinnert sich an Emma (im Comic weiß man ja den Namen bereits durch die Rahmenhandlung). Von einer Einstellung, die wie im Film den kurzen Blickwechsel wiederholt, werden dann aber Close-Ups aus der ursprünglichen Szene quasi noch »vergrößert« (oder intimisiert). Erst die Lippen, dann die Augen (die natürlich auch blau sind [Leá Seydoux hat übrigens auch blaue Augen, aber das Blau wird durch Kontaktlinsen oder Color Coding offensichtlich noch verstärkt]), ehe Emma sich dann der im Bett liegenden Clementine nähert, ihren Nacken küsst, und zwei Hände, die sich plötzlich blau färben (und aus dem bildlichen Kontext nicht Clementines eigene Hände sind), hantieren (geschmackvoll eingefangen) an ihrem Körper herum, ehe sie sich, aufgeschreckt und vor dem Badezimmerspiegel stehend, fragt, was gerade mit ihr passiert.

Blau ist eine warme Farbe

In Comic wie Film findet danach eine Distanzierung von Thomas statt, bis dieser seine vermeintliche Traumfrau darauf anspricht und Adèle / Clementine entsprechend der heterosexuellen Tradition aber entgegen dem üblichen Rollenbild die Initiative ergreift, Thomas küsst, und die beiden recht schnell gemeinsam nackt in einem Zimmer landen. In ihrer Deutlichkeit (erigierter Penis etc. in der Filmfassung) ist diese Szene auch eine Art »Vorbereitung« für die ausgedehnte lesbische Sexszene, die vermutlich in jeder Beschäftigung mit dem Film eine große Rolle spielt.

Blau ist eine warme Farbe

Interessant und verblüffend (wenn man wie ich zuerst den Film gesehen hat) ist aber, dass es im Comic diese Entjungferung gar nicht gibt. Nachdem Clementine bereits sechs Monate (!) mit Thomas geht, kommt es zum »Abend bei ihm«, bei dem ein subtiles kleines (blaues!) Etwas rein kontextuell eindeutig als ein noch eingepacktes Kondom zu begreifen ist, und Thomas zeigt sich verständnisvoll, dass Clementine noch nicht »so weit« ist (es wird im Tagebuch mehrfach betont, dass es weder zu diesem noch zu einem späteren Zeitpunkt zur Penetration kam). Ein weiteres halbes Jahr später (!) macht Clementine dann Schluss mit ihm, weil sie sich offensichtlich mit der Lebenslüge, die auf der Annahme aufbaut, dass »ein Mädchen einen Jungen lieben muss«, nicht mehr weiter arrangieren möchte und dabei auch dem eigentlich sehr positiv gezeichneten Thomas auf Dauer Leid zufügt.

Ohne zuvorige Comiclektüre ist es innerhalb des Films schlicht unmöglich, auf die Idee zu kommen, dass die Sache mit Thomas ein Jahr andauert. Die Datierung durch Voice-Over und Tagebucheintragungen fehlt hier, einzig anhand unterschiedlicher Lehrer könnte man die Handlungsdauer so interpretieren. Kechiche betont sehr ein Faible Adèles für Literatur und thematisiert auch, dass der eher bildungsferne Thomas sich bemüht, über das angestrengte Lesen von Adèles Schullektüre, Marivaux' La vie de Marianne (die Parallele zum Filmtitel ist unverkennbar), dem Mädchen intellektuell näherzukommen.

Blau ist eine warme Farbe

Die größte Entfernung des Films von der Comichandlung (und auch die größte Stärke des Films) ist die Beschreibung der Beziehung zwischen Adèle und Emma, die auf der Leinwand einen weitaus größeren Zeitraum einnimmt. Hierbei lässt sich Kechiche oft vom Comic inspirieren (das Spaghetti-Mahl), erfindet aber darüber hinaus so einiges. Auffallend ist hierbei erneut die Betonung der künstlerischen Kreativität, diesmal anhand von Emma, die zunächst ein Kunststudium macht und später eigene Ausstellungen bestreitet. Adèle nimmt hier ein wenig die Position ein, die zuvor Thomas innehat: sie hat nur wenig Kunstverstand, versucht aber, dem Level ihrer großen Liebe zu entsprechen, was eine gewisse Tragik beinhaltet. Adèle nimmt hier überdeutlich das Rollenverhalten der »Frau« ein, die den »Mann« bei der Karriere unterstützt, etwa durch das Erstellen einer Entsprechung eines klischeehaften »Dienstessens« (natürlich abermals Spaghetti!). Diese Herangehensweise wird später weiterhin verfolgt, besonders auffällig bei einem späteren Streit, wo Emma Adèle schlägt. Einer der Schwachpunkte des Films, bei dem Kechiche seine im Dialog so vorherrschende Subtilität vermissen lässt, ist eine Gartenparty für die Kunstszene, bei der ziemlich aufdringlich Die Büchse der Pandora auf einer draußen aufgestellten Leinwand läuft (zur Schau gestellte Sexualität ist ein großer Anteil von Emmas künstlerischer Identität), was dem gleichfalls zur Schau gestellten künstlerischen Anspruch des Regisseurs entspricht, dessen Rückgriff auf die Filmgeschichte aber nicht nur etwas plakativ ausfällt (Leontine Sagans Mädchen in Uniform hätte hier eine weniger heterosexualisierte, auf den Schauwert Louise Brooks' reduzierte Wahl dargestellt – die aber von weitaus weniger Zuschauern erkannt worden wäre), sondern sich der Film auch noch dadurch disqualifiziert, dass der Name des Pandora-Regisseurs im Abspann allen Ernstes als »Pasbst« falschgeschrieben wird.

Blau ist eine warme Farbe

Doch Subtilität und auf eine Sensibilität eines lesbischen Publikums abgestimmte Vision ist nicht Kechiches Ding. Da wird der Verzehr von Austern überdeutlich mit gewissen sexuellen Praktiken kontextualisiert, eine Lesbenbar entspricht etwa dem weiblichen Gegenstück zu Cruising (kein Vergleich zu der Darstellung im Comic), die Kunstgeschichte wird größtenteils auf weibliche Akte reduziert (und eine Prise Klimt hier, ein Klecks Schiele dort), und aus einer dezenten, im Comic knapp zwei Doppelseiten einnehmenden Sexszene, wird im Film ein ausgedehntes (etwa 12-15 Minuten) Politikum, das Darstellerinnen wie Publikum fordert, und sich eher an der Ästhetik von auf ein männliches Publikum ausgerichteten Lesbenpornos orientiert als dem Versuch, dem Kern einer rein weiblichen Sexualität näherzukommen. Allein schon die sehr intime Art, Adèle abzubilden (die Kamera scheint geradezu vernarrt in ihren halbgeöffneten Mund mit den prominenten Schneidezähnen, den man immer wieder in Nahaufnahmen sieht), ist sehr unterschiedlich von der Darstellung Clementines im Comic.

Blau ist eine warme Farbe

Demensprechend distanzierte sich Julie Maroh in ihrem Blog auch von dieser Darstellung des Films, was im Bonusmaterial der Comic-Veröffentlichung beim Splitterverlag auch gleich mitzitiert wird. Maroh wirft Kechiche vor, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, im »Film ein lesbisches Thema zu behandeln, ohne zur vorherigen Recherche auch nur eine homosexuelle Person zu konsultieren«.

Abschließend muss ich betonen, dass in der unterschiedlichen Perspektive die Stärken und Schwächen der beiden Autoren bestehen. Im direkten Vergleich erkennt man die zahlreichen Beiträge Kechiches zur Geschichte, etwa die meisterhafte, ausgedehnte Inszenierung des ersten Kusses, das wiederkehrende Motiv, wenn Adèle in bestimmten Situationen ihr Haar öffnet oder die subtile Thematisierung des Doppellebens einer Lesbe, die in Frankreich (!) als Vorschullehrerin arbeitet (die politische Situation im Land wird an der Preisvergabe in Cannes nicht unschuldig gewesen sein) sind Momente, die man im Comic vermissen mag. Doch es ist natürlich nicht der Job Julie Marohs, auf die positiven Aspekte einer Adaption antworten zu müssen, ihr Werk steht für sich allein, und auch, wenn man in ihrem Debüt noch erzählerische Kinderkrankheiten wahrnimmt, so gelingt ihr, wovon Kechiche Lichtjahre entfernt ist: das intime (im Sinne von Nähe statt Fleischbeschau) und authentische Portrait eines Coming-Outs.

Blau ist eine warme Farbe

Die große Frage, die diese beiden Werke gemeinsam aufwerfen, ist folgende: Wie großartig wäre es wohl gewesen, wenn sich die narrative Erfahrung des Regisseurs und die autobiographischen Einblicke der Autorin ergänzt hätten statt sich zu bekriegen? Wenn der Film die Sensibilität des Comics hätte und der Comic die Beobachtungsgabe des Films? Das hätte eine Liebesgeschichte mit Happy-End sein können ...