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8. Mai 2013
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Stoker – Die Unschuld endet (Park Chan-wook)
Stoker – Die Unschuld endet (Park Chan-wook)
Bildmaterial © Twentieth Century Fox
Stoker – Die Unschuld endet (Park Chan-wook)
Stoker – Die Unschuld endet (Park Chan-wook)
Stoker – Die Unschuld endet (Park Chan-wook)


Stoker
Die Unschuld endet
(Park Chan-wook)

Originaltitel: Stoker, USA / UK 2013, 98 Min., Buch: Wentworth Miller, (Mitarbeit: Erin Cressida Wilson), Kamera: Chung Chung-hoon, Schnitt: Nicolas De Toth, Musik: Clint Mansell, Production Design: Thérèse DePrez, Art Direction: Wing Lee, Kostüme: Kurt and Bart, mit Mia Wasikowska (India Stoker), Nicole Kidman (Evelyn Stoker), Matthew Goode (Charlie Stoker), Jacki Weaver (Gwendolyn »Gin« Stoker), Alden Ehrenreich (Whip Taylor), Dermot Mulroney (Richard Stoker), Lucas Till (Chris Pitts), Ralph Brown (Sheriff Howard), Phyllis Somerville (Mrs. McGarrick), Tyler von Tagen (Young Richard), Kinostart: 9. Mai 2013

Wer sich noch an Beavis & Butthead erinnert, weiß, dass die beiden in ihrer MTV-Serie bevorzugt Musikvideos schauten, die sie dann kommentierten, eine kongeniale Einflechtung der typischen Programmstruktur innerhalb des Formats. Die Kommentare waren zumeist infantil, aber da die Videoclips nur selten intelligenter waren als ihr Publikum, hatten B & B durchaus das Potential, mit ihren Kritikpunkten ins Mark zu treffen. Der diesbezüglich treffendste Kurzdialog der beiden (der oft wiederholt wurde) war: »This video tells a story« , meist innerhalb von 15 Sekunden spezifiziert durch »The story sucks.«

Womit wir bei Stoker angekommen wären, der exakt dasselbe Problem hat. Das Debütdrehbuch des als Schauspieler (die jüngere Version von Anthony Hopkins in The Human Stain) bekannten Wentworth Miller zeugt durchaus von Talent, der Spannungsaufbau ist gelungen, die Figuren sind interessant, ich möchte den Film nicht missen, doch wenn man das Kino verlässt, kommt man nicht drumherum, festzustellen, dass die Handlung im Nachhinein reichlich Banane ist. In den meisten Fällen disqualifiziert dies den Film schon automatisch, doch in diesem Fall ist die Art und Weise, wie Regisseur Park Chan-wook in seiner ersten englischsprachigen Arbeit (Kritiken zu seinen sechs koreanischen Langfilmen dieses Jahrtausends findet man auf satt.org) die Geschichte erzählt und inszeniert, so gelungen, dass man über die eigentliche Story auch gerne wohlwollend hinwegsieht.

Visuell und atmosphärisch ist Stoker nämlich ein Kleinod, das vor allem auch davon lebt, dass man in jeder Sekunde des Films geradezu atmen kann, wie viel Freude Herrn Park sein Job gemacht haben muss. Das beginnt schon beim etwas mysteriösen Vorspann, der bei Filmende eine Neubewertung verlangt, die nicht immer positiv ausfallen wird, der aber in seiner Kunstfertigkeit noch dem ärgsten Kritiker des Films Respekt abringen wird.

Die junge Hauptdarstellerin Mia Wasikowska wurde als Alice in Wonderland einem riesigen Weltpublikum vorgestellt, danach folgten bereits Jane Eyre und Gus Van Sants Restless, in Sachen cleverer Filmauswahl sticht sie damit selbst Chloë Grace Moretz aus, und Frau Wasikowska kann sich auch neben Veteranen wie Matthew Goode und Nicole Kidman ohne Probleme behaupten.

Hier spielt sie das jüngste Mitglied der Familie Stoker (kein erkennbarer Bezug zu Bram Stoker, aber der evoziierende Titel ist clever gewählt), die 18jährige India, bei der das Erreichen der Volljährigkeit gleich einen doppelten Einschnitt bedeutet, denn ihr Vater (nur in ein paar Rückblenden: Dermot Mulroney) starb an selbigen Tag durch einen Autounfall. Somit stellt der Film von Beginn Tod und Erwachsenwerden nebeneinander, mal sieht man, wie India auf dem großen Grundstück (der Garten ist ein Meisterstück des Production Design) das väterliche Geburtstagsgeschenk sucht (sozusagen posthum übermittelt), dann wieder steht sie gemeinsam mit der Mutter (Nicole Kidman) auf der Beerdigung und irgendwo am Horizont taucht ein geheimnisvoller Mann auf, der sich später als ihr Onkel Charlie herausstellt.

Spätestens bei einer Nichte mit einem Onkel namens Charlie läuten bei einem Hitchcock-Fan sämtliche Alarmglocken (vgl. Shadow of a Doubt, wo die Nichte auch noch den selben Namen wie der Onkel trägt), und in Sachen Hitchcock-Hommage (teilweise auch Rip-Off) liefert Stoker in anderthalb Stunden gefühlt so viel großartiges Material wie Brian De Palma einst in einer halben Dekade von Duschszenen und Rückprojektionen. Um ein wenig vorzuspringen in der Geschichte, die ich ohnehin nicht im Detail ausbuchstabieren möchte: Stoker bietet eine Duschszene, die ab sofort zusammen mit den bekannten Momenten aus Psycho und Carrie in einem Atemzug genannt werden darf (und ob Chloë Grace Moretz bzw. ihre Regisseurin Kimberley Pierce beim Carrie-Remake, das Ende diesen Jahres folgen wird, in der gleichen Liga mitspielen können, darf man getrost in Frage stellen).

Für die Entscheidung, ob man mit sich mit diesem Film einlassen sollte, wurden bereits die meisten Faktoren genannt. Insbesondere für Filmenthusiasten kann man es zusammenfassen als jede Menge Hitchcock, angereichert mit je einer Prise Lolita, Hamlet und Apt Pupil. Ungeachtet meiner Kritik an der Story funktioniert der Film als Achterbahnfahrt mit einigem an psychologischer Unterfütterung ganz vorzüglich, und das große Vergnügen dieses Films ist es, Park dabei zuzuschauen, wie er nahezu alle Möglichkeiten des Mediums für seine kleine dreckige Geschichte einsetzt: Ein Production Design, für das selbst Tim Burton und Wes Anderson töten würden, eine feinsäuberlich abgestimmte Tonspur, die zwar etwas plakativ, aber beispielhaft wirksam ist, und jede Menge Close-Ups, Parallelmontagen, Split Screens, Freeze Frames und Match-Cuts, die aber nicht (wie öfters bei Brian De Palma) dem Material aufgestülpt wirken, um noch eine Spur mehr anzugeben, sondern die jeweils das Erzählte unterstützen und Form und Inhalt zu einer perfekten Einheit verschmelzen lassen. Wenn jetzt auch noch der Inhalt etwas hergegeben hätte, hätte es ein zeitloses Meisterwerk werden können. Eine Lektion in Sachen Möglichkeiten des Medium Film ist es allemal.