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2. Februar 2011
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Poll (Chris Kraus)
Poll (Chris Kraus)
Poll (Chris Kraus)
Bildmaterial: Arne Höhne Presse
Poll (Chris Kraus)
Poll (Chris Kraus)
Poll (Chris Kraus)


Poll
(Chris Kraus)

Deutschland / Österreich / Estland 2010, Buch: Chris Kraus, Kamera: Daniela Knapp, Schnitt: Uta Schmidt, Musik: Annette Focks, Szenenbild: Silke Buhr, mit Paula Beer (Oda von Siering), Edgar Selge (Ebbo von Siering), Tambet Tuisk (Schnaps), Jeanette Hain (Milla), Richy Müller (Mechmershausen), Enno Trebs (Paul), Jevgenij Sitochin (Hauptmann Karpov), Gudrun Ritter (Oda Schaefer), 129 Min., Kinostart: 3. Februar 2011

Oda ist im Jahr 1914 14 Jahre alt (ihre Darstellerin Paula Beer während der Dreharbeiten übrigens auch), und kurz vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschlägt es sie auf das Familiengut Poll an der baltischen Ostseeküste. Das extra für den Film auf Stelzen errichtete Gebäude dürfte innerhalb der deutschen Filmgeschichte bereits einen Sonderstatus innehaben. Regisseur Chris Kraus, der schon mit Scherbentanz und vor allem Vier Minuten in die Elite der jungen deutschen Regisseure hervorstieß, entdeckte die quasi unbekannte deutsche Schriftstellerin Oda Schaefer (1900-1988) während seines Germanistikstudiums, und fand dabei auch noch heraus, dass ihr Mädchenname Oda Kraus war, sie somit seine (nie persönlich kennengelernte) Großtante war, die aufgrund ihrer »inopportunen kommunistischen Gesinnung« von der Familie totgeschwiegen wurde. Und damit wurde bereits 1996 das Interesse des Regisseurs an dieser eigenwilligen Person geweckt, deren Memoiren nun für Poll zur Inspiration wurden.

Im Film geht es um die schwierige Situation von Odas adliger Familie inmitten von Esten und Russen. Und um einen estischen Anarchisten (und verbotenen Schriftsteller), den Oda heimlich auf dem Gut gesundpflegt, was in ihrem Alter aufgrund der Nightingale-Situation, der sehr unterschiedlichen politischen Gesinnung im Vergleich zur Familie und der gemeinsamen Liebe für die Literatur (im Film nicht unbedingt Hauptthema) zu einiger Verwirrung führt. Ferner gibt es noch einen gleichaltrigen Cousin, der auch an Paula interessiert ist, sowie eine seltsame Dreicksgeschichte unter den »erwachsenen« Personen.

Wie schon in seinen früheren Filmen beweist Kraus wieder ein Gespür für Bilder und Schauspielerführung (insbesondere die Neuentdeckung Paula Beer und der estnische Schauspieler Tambet Tuisk als Anarchist »Schnaps« tragen den Film), doch diesmal hat er vielleicht etwas zu viel gleichzeitig versucht. Ein Biopic einer zu Unrecht in Vergessenheit geratenen Urahnin, ein Kraftakt in Sachen Ausstattung, eine komplexe historische, politische und topographische Situation, der Versuch, auch die Sprachsituation wieder zugeben … und zu guter Letzt auch noch eine Vaterfigur (Edgar Selge), die wie eine Mischung aus Baron Frankenstein und Dr. Mengele daherkommt. Das Kernstück des Films ist anrührend und trotz der Problematik durchaus überzeugend, aber das viele Brimborium drumherum strapaziert die Glaubwürdigkeit und macht vieles kaputt. Insbesondere Richy Müller wirkt in der historischen Rolle gänzlich deplaziert, und die meisten Aspekte des Films, die mit seiner Figur zusammenhängen, hätte man vielleicht einfach rausschneiden sollen aus dem mit 129 Minuten auch nicht eben kompakten Werk.

Aber gerade das Scheitern zeichnet ja viele große Regisseure auch aus, und so gesehen ist Poll wohl auch eine große Chance für seinen Regisseur, sich weiterzuentwickeln. Sein nächster Film hat vielleicht keine Familiengeschichte zur Basis, verzichtet auf angeberische Kamerafahrten, und versucht nicht auch noch im Vorbeigehen Gut und Böse, Leben und Tod und die Emanzipation abzuhandeln.

Ganz persönlich hätte ich mir übrigens beim Abspann noch eine Schrifttafel »Seneca (1913-1914)« gewünscht und möchte darauf hinweisen, dass es irgendwie lächerlich ist, wenn man einer 14jährigen auch in unpassendsten Stellen (z. B. gleich nach der Chloroformszene) immer die Lippen rot anmalt, und sie dann, wenn sie für einen Jungen gehalten werden soll, schon aufgrund des fehlenden Make-Ups wie selbstverständlich diese Rolle ausfüllen soll. Aber das sind wohl Film- und »Ästhetik-«Konventionen, die nicht einfach zu durchbrechen sind.