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27. Januar 2010
Thomas Vorwerk
für satt.org


  Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)
Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)
Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)
Fotos © 2009 Warner Bros. Ent.
Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)
Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)
Sherlock Holmes (R: Guy Ritchie)


Sherlock Holmes
(R: Guy Ritchie)

USA 2009, Buch: Michael Robert Johnson, Anthony Peckham, Simon Kinberg, Lit. Vorlage: Sir Arthur Conan Doyle, Kamera: Philippe Rousselot, Schnitt: James Herbert, Musik: Hans Zimmer, Production Design: Sarah Greenwood, Supervising Art Director: Niall Moroney, Kostüme: Jenny Beavan, mit Robert Downey jr. (Sherlock Holmes), Jude Law (Dr. John Watson), Rachel McAdams (Irene Adler), Eddie Marsan (Inspector Lestrade), Mark Strong (Lord Blackwood), Kelly Reilly (Mary Morstan), Clive Russell (Captain Tanner), Robert Maillet (Dredger), William Houston (Constable Clark), Hans Matheson (Lord Coward), Geraldine James (Mrs. Hudson), James Fox (Sir Thomas), William Hope (Ambassador Standish), David Garrick (McMurdo), Oran Gurel (Reardon), Kylie Hutchinson (Maid), 128 Min., Kinostart: 28. Januar 2009

Als Robert Downey jr. zehn Tage vorm deutschen Kinostart seinen Golden Globe als Hauptdarsteller der “Komödie” Sherlock Holmes entgegennahm, legte er besonderen Wert darauf, einigen Leuten nicht zu danken. Mit gespieltem Hochmut stellte er fest, dass viele Leute ihm zu danken hätten, dass er es vollbracht hat, mit Sherlock Holmes der übermächtigen Konkurrenz Avatar (inzwischen weltweit der erfolgreichste Film aller Zeiten - noch vor Titanic) zumindest soweit zu trotzen, dass Sherlock in den ersten Wochen bereits knapp 200 Millionen Dollar in den Staaten einspielte.

Nicht wortwörtlich, aber ohne Verfälschungsabsicht paraphrasiert sagte er weiterhin “I won’t thank Joel Silver for kickstarting my career for the sixth or seventh time.” Eine kurze Exkursion. Joel Silver begann als Produzent hinter einigen Filmen aus der goldenen Zeit von Walter Hill (The Warriors, 48 Hrs., Streets of Fire), wurde reich und berühmt mit den Filmreihen Lethal Weapon, Die Hard, Predator und Matrix und begleitete einige der Darsteller dieser Reihen (sowie ausgewählte Regisseure) auch durch andere Filme, z. B. Bruce Willis (Hudson Hawk, The Last Boy Scout) oder Mel Gibson (Conspiracy Theory), bevor er sich dann auch mit seiner Produktionsfirma Dark Castle um eine Renaissance des Horrorfilms bemühte (House on Haunted Hill, Ghost Ship, House of Wax).

In der Filmographie von Robert Downey (damals noch ohne “jr.”) tauchte Silver erstmals 1985 bei Weird Science (dt: L. I. S. A. - der helle Wahnsinn) auf, einer Teenie-Komödie um die künstlich ins Leben gerufene Traumfrau Kelly Le Brock (außer an ihre Titelrolle in The Lady in Red erinnert sich an die Dame kaum jemand mehr). In den nächsten zwanzig Jahren verschwand Robert Downey jr. nie wirklich von der Leinwand, aber seine bekanntesten Filme waren eher künstlerisch oder an der Kasse missglückte Streifen wie Less than Zero, Chaplin (!) oder The Gingerbread Man (der einzige wirkliche Hit dürfte Air America gewesen sein, der alle zwei Jahre mal wieder auf Pro 7 zu sehen ist). Und viele nette kleine Nebenrollen in Filmen wie Short Cuts, Natural Born Killers oder Wonder Boys. “Kickstarts” von Joel Silver gab es dann noch mit Gothika und Kiss Kiss Bang Bang, und plötzlich, nach seinem grundsoliden Auftritt in Zodiac, seinem ersten ganz persönlichen Blockbuster Iron Man und seiner mutigen Rolle als Kirk Lazarus in Tropic Thunder, ist Robert Downey jr. der Filmstar, den eigentlich jeder mag, und an dem man sich noch längst nicht sattgesehen hat (insbesondere verglichen mit etwa gleichaltrigen Kollegen, die bereits viel früher den Superstar-Status erreichten, z. B. Tom Cruise, Nicolas Cage, Michael J. Fox, Matt Dillon, Kiefer Sutherland oder Charlie Sheen).

Dass Robert Downey jr. bereits Mitte 40 ist, versucht er in seinen Rollen nicht herunterzuspielen, wie schon bei seinem Alkoholproblem als Superheld Tony Stark liefert er auch als Sherlock Holmes zwar körperliche Höchstleistungen in Verfolgungsjagden und Kampfszenen, doch der Kater am Tag danach, die schmerzenden Knochen und kleinen Wehwehchen, ja sogar einige offensichtliche Schwächen tragen hier zum Charme der Figur bei. Wo andere Schauspieler von Gerüchten um CGI-Retuschen verfolgt werden, scheint Downey auch nicht davor zurückzuschrecken, wenn sein Gesicht in manchen Szenen etwa genauso verknautscht wirkt wie das seines Film-Schoßhunds Gladstone.

Der Amerikaner Downey ist nicht eben die Standardbesetzung für den (extrem) britischen Detektiv, der immerhin schon von so unterschiedlichen Darstellern wie Basil Rathbone, Christopher Plummer, Michael Caine, Christopher Lee und Peter Cushing, aber auch von Hans Albers dargestellt wurde. In den immens erfolgreichen viktorianischen Geschichten von Sir Arthur Conan Doyle (so erfolgreich, dass der Autor sich nach dem Ableben seiner Figur sogar zu weiteren Veröffentlichungen überreden ließ und ihn sozusagen “wiederbelebte”) ist der Erzähler immer Holmes’ eine Spur weniger genialer Begleiter Dr. Watson, der in Verfilmungen nahezu traditionell etwas kleiner ist, ein bißchen stämmig und zumeist mit einem Schnurrbart ausgestattet. Was jetzt auch nicht unbedingt zu dem quasi gleichberechtigt auftretenden Jude Law passt.

Ich bin kein ausgeprägter Holmes-Experte. Knapp 20 seiner Fälle (also etwa ein Drittel) habe ich gelesen, was inzwischen aber auch zwei bis fünf Jahre her ist, aber immerhin waren einige “Klassiker” dabei: The Adventure of the Speckled Band, The Hound of the Baskervilles, The Musgrave Ritual, The Final Problem.

Dadurch fühle ich mich berufen, einiges Positives über Guy Ritchies Film verlauten zu lassen. Man unterhält sich dort zum Beispiel putzigerweise kurz mal über die (neben Doyle) wichtigsten Schöpfer früher Detektivgeschichten: Wilkie Collins und Edgar Allan Poe. Rachel McAdams ist als “Irene Adler” sowas wie eine Mischung aus Mata Hari und Catwoman, aber wer sich die Mühe macht, in A Scandal in Bohemia nachzuschauen, wird als ersten Satz lesen: “To Sherlock Holmes she is always the woman.” Und auf der letzten Seite dieser Geschichte kann man auch lesen, warum es dem Film-Sherlock so peinlich ist, wenn Irene ihr Foto in seinem Besitz findet.

Die schönste Stelle des Films wirkt auf den ersten Blick wie eine Zeitreise. Völlig unvermittelt stoppt die Erzählung, und Holmes verhält sich etwas anders, als wir es beim ersten Mal erlebt zu glauben hatten. Doch diese verwirrende Passage ist eine genialische Umsetzung eines in den Holmes-Geschichten mehrfach zu beobachtenden narrativen Kniffs, wobei erst nachträglich offenbart wird, dass der Detektiv zwischenzeitig nicht untätig war.

Holmes verfolgt, er verkleidet sich, er beobachtet scharf, er veräppelt Inspector Lestrade (Eddie Marsan ist wie fast immer großartig), und er hat auch menschliche Schwächen. Soweit die Teile des Films, die ich durchaus als werkgetreu bezeichnen würde.

Allerdings gibt es auch unnötig brutale Fight Scenes (und zwar nicht wenige), wie James Bond, Indiana Jones oder Ethan Hunt gebiert sich Holmes wie ein in diversen Kampfarten ausgebildeter Superheld, kurzum: der Film orientiert sich viel stärker an einem Blockbuster-geschulten Zielpublikum als irgendeinem vermeintlich verstaubten Literaturklassiker (nur aus der Sicht des bereits erwähnten Zielpublikums). Wie Baz Luhrmann bei Moulin Rouge!, die Hughes-Brüder bei From Hell oder Tim Burton bei diversen seiner Filme führt auch Guy Ritchie das London des Jahres 1890 als riesigen Dauer-Money-Shot vor: rasante Kamerafahrten zeigen ein CGI-London, bei dem Sehenswürdigkeiten wie eine Schiffswerft oder die fast fertiggestellte Tower Bridge zu Action-Schauplätzen werden. In einem Blockbuster des neuen Milleniums sollte es am besten um das Schicksal der Erde oder der Menschheit gehen. Und wenn das so gar nicht mit der doch eher auf überschaubare Fälle spezialisierten Doyle-Figur zu vereinbaren scheint, dann braucht man mindestens jede Menge Zerstörung und Explosionen. Und in manchen Momenten dachte ich darüber nach, ob man hier wirklich Doyle verfilmen wollte oder einen anderen großen Autoren viktorianischer Stoffe, der allerdings noch lebt: Alan Moore. Es beginnt mit einer Reihe von Frauenmorden (vgl. From Hell und The League of Extraordinary Gentlemen), recht schnell folgt die Verschwörung eines Geheimbundes (From Hell) und schließlich ist als Paukenschlag ein Anschlag auf das House of Parliaments geplant (V for Vendetta). Womit man nicht nur einige der bekanntesten (und “englischsten”) Comics von Moore versammelt hat, sondern auch noch 75% der Verfilmungen (alles außer Watchmen).

Wäre nicht The League of Extraordinary Gentlemen (der Comic!) gewesen, wäre es womöglich nie zu diesem neuerlichen Interesse Hollywoods am viktorianischen London (bzw. den dort ursprünglich spielenden Stoffen) gekommen. Filme wie Van Helsing (der mit der Figur bei Bram Stoker nun wirklich fast nur noch den Namen gemein hat) oder Spielbergs War of the Worlds sind die filmischen Vorfahren von Guy Ritchies Film. Man nimmt sich literarische Figuren oder Plots, bei denen die Rechte mittlerweile in die Public Domain übergegangen sind, und macht daraus einen “zeitgemäßen” Blockbuster. Verglichen mit diesen Beispielen sieht man zwar bei Moores League of Extraordinary Gentlemen die Liebe zu den Quellen, das Auge fürs Detail und die quasi literaturwissenschaftliche Interpretation, die auch den Leser wirklich fordert, aber ähnlich wie bei seinem Rorschach, der eine ganze Reihe von psychopathischen Rächern nach sich zog, wurde auch hier aus einer guten Absicht ein verhängnisvoller Trend. Der nächste Robin Hood und Wolf Man sind bereits abgedreht (keine streng literarischen Vorbilder, aber same difference ...), angesichts des Erfolgs des Disney-Musicals ist ein Rätsel, warum nicht längst ein neuer Tarzan abgedreht wurde, bei dem der Titelheld (vielleicht Hugh Jackman?) mit ähnlich spektakulären Aufnahmen von Liane zu Liane springt wie in den Spider-Man-Filmen.

Das “Zeitgemäße”, das Schielen auf ein Zielpublikum ist somit auch das Ärgerliche an Sherlock Holmes, insbesondere mit einem Regisseur wie Guy Ritchie, der sich mit Ausnahme seines “Urlaubsfilms” mit seiner damaligen Gattin Madonna jedesmal in Macho-Manierismen ausbreitet (Zeitlupen-Boxkämpfe mit riesigen Wrestler-Typen). Wo Holmes & Watson ein Jahrhundert lang zu den großen “wahrscheinlich-sind-sie-schwul”-Paaren der Weltgeschichte gehörten (zusammen mit Ernie & Bert oder Batman & Robin), gibt sich der mitunter sehr homophob erscheinende Ritchie (siehe RocknRolla) extra viel Mühe, 98% des interessanten Subtexts im Keim zu ersticken. Die beiden wohnen nicht mehr zusammen, haben zwei unterschiedliche weibliche love interests, und wenn sie mal zusammen unterwegs sind, dann hat man das Gefühl, dass sie auf dem Weg zum nächsten Fight Club sind, um sich mit Vinnie Jones zu prügeln.

Man hält sich zwar an manche Sätze der Texte von Doyle, aber die Atmosphäre ist eine völlig andere. Wenn man dann noch im Presseheft liest, dass man sich absichtlich vom Film Noir-Stil anderer Holmes-Filme absetzen wollte, fällt natürlich nicht nur auf, dass hier jemand keinerlei Ahnung davon hat, was den Film Noir ausmacht, man findet auch eine ähnliche Entfernung von den Quellen, wie man sie bei den letzten zwei James Bond-Filmen (in die Gegenwart transportiert) oder Star Trek (Hauptsache Sex und Action), also zwei bekannten und erfolgreichen sogenannten “Reboots” erleben konnte. Vielleicht ist es nur der Fluch der frühen Geburt (selbst, wenn ich noch jünger als Downey jr. bin), aber ich bevorzuge Star Trek vor dem Reboot, James Bond macht für mich im Kalten Krieg viel mehr Sinn und ich lese auch lieber noch ein paar Holmes-Geschichten von Arthur Conan Doyle als darüber zu sinnieren, wer jetzt im nächsten Holmes-Ritchie-Film (und alle Zeichen stehen auf ein Sequel) wohl den Moriarty spielt. Aber ich befürchte, dass ich mit dieser Einstellung klar in der Minderheit bin.