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November 2006
Thomas Vorwerk
für satt.org

Als das Meer verschwand
Neuseeland / England 2004

Als das Meer verschwand (R: Brad McGann)

Als das Meer verschwand

Originaltitel: In my father’s Den, Buch und Regie: Brad McGann, Lit. Vorlage: Maurice Gee, Kamera: Stuart Drysburgh, Schnitt: Chris Plummer, Musik: Simon Boswell, Casting: Diana Rowan, Production Design: Jennifer Kernke, Art Direction: Phil Ivey, mit Matthew MacFadyen (Paul), Emily Barclay (Celia), Colin Moy (Andrew), Miranda Otto (Penny), Jodie Rimmer (Jackie), Matthew Chamberlain (Jeff), Jimmy Keen (Jonathan), Vanessa Riddell (Iris), Toby Alexander (Paul als Teenager), Nicholas Hayward (Andrew als Teenager), Vicky Haughton (Ms. Seager), 128 Min., Kinostart: 30. November 2006

Kameramann Stuart Drysburgh hat mal den wohl - abgesehen von einigen Werken von Peter Jackson - bekanntesten Film photographiert, der je in Neuseeland gedreht wurde: Jane Campions The Piano. Damals fing er den Zauber der Landschaft, die nahezu unberührte Natur ein, doch In my Father’s Den ist kein Aushängeschild für die neuseeländische Touristikbehörde, sondern - wie schon der Titel andeutet - fast ein Kammerspiel.

Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene
Filmszene

Als Kind entdeckte Paul das Versteck seines Vaters, irgendwo hinter dem Geräteschuppen. Jede Menge Bücher, gute Weine und eine Stereoanlage. Bald war dies auch Pauls Zuflucht. Die Geschichte beginnt jedoch eine Generation später. Nach siebzehn Jahren kehrt der mehrfach ausgezeichnete, aber ziemlich desillusionierte Kriegsphotograph Paul Prior (Matthew Macfadyen, der “Mr. Darcy” aus der letzten Pride & Prejudice-Verfilmung) zurück in das Nest seiner Jugend. Die Beerdigung des Vaters steht an, und für einen letzten Drink irgendwo auf dem Weg kommt er dazu auch noch zu spät. Sein Bruder Andrew (Colin Moy) ist nicht eben verzückt, die Schwägerin Penny (Miranda Otto, die Eowyn aus einigen Tolkien-Verfilmungen) ist da schon neugieriger, und dem Neffen Jonathan schenkt Paul immerhin eine Kamera.

Als er die titelgebende Zuflucht des Vaters nach so vielen Jahren wieder aufsucht, findet er dort ein junges Mädchen, Celia (Emily Barclay), die er zunächst verscheucht. Erst später erfährt er, daß dies die Tochter seiner Jugendliebe Jackie (Jodie Rimmer) ist. Zwischen Paul und Celia entwickelt sich eine Freundschaft, die vor allem darauf aufgebaut ist, daß Celia wie Paul die Ortschaft, am besten gleich das Land verlassen will, und ebenso als Journalistin oder vielleicht Schriftstellerin arbeiten möchte - vielleicht in Andalusien oder so. Paul will das Mädchen in diesem Entschluß unterstützen - der neue Freund ihrer Mutter scheint auch nicht der richtige Umgang - stellt aber nebenbei fest, daß es mathematisch möglich bis wahrscheinlich ist, daß Celia seine Tochter sein könnte.

Aus ganz anderen Gründen interessiert sich Neffe Jonathan für die etwa gleichaltrige Celia, und schießt mit seiner neuen Kamera heimlich einige Bilder, die seinen Vater sehr erzürnen. Auch Paul wird natürlich in der kleinen Gemeinde unterstellt, er könne sich vielleicht “zu gut” mit der Minderjährigen verstehen - was bei einer tatsächlichen Blutsverwandschaft natürlich noch heikler würde - doch richtig unangenehm wird es, als Celia plötzlich verschwindet. Tatsächlich nach Andalusien - oder ist sie das Opfer eines Verbrechens geworden, dessen Motiv fast noch interessanter sein könnte als die Identität des Täters?

In my Father’s Den deutet schon früh die Möglichkeit einer Kindesmisshandlung oder eines Inzestes an. Wenn Celia nach einer denkwürdigen Szene mit ihrem “Quasi”-Stiefvater Jeff ihre Zimmertür abschließt, erinnert allein die Einstellung auf das Türschloß sofort an Atom Egoyans The Sweet Hereafter. Die Landschaft und die eigentümliche “Zuflucht” hingegen erinnern an Tim Roths The War Zone, der zufällig auch dieselbe Produzentin hat.

Auch die Kammerspielhaftigkeit (auch wenn der Film keineswegs klaustrophobisch stimmt) erinnert an Roth, die etwas komplizierte Struktur des Drehbuchs an Egoyan. Doch In my Father’s Den setzt die Akzente ganz anders, durch das Verschwinden Celias entwickelt sich plötzlich eine Kriminalgeschichte, was den Film nach einer Hälfte plötzlich auf den Kopf stellt. Man merkt dem Film die Romanvorlage an, allzu viele Handlungsstränge kämpfen um ihr Recht. Da geht es um Celias literarische Bemühungen, die Hintergründe eines preisgekrönten Photos, das Paul in Bosnien schoss, Hinterlassenschaften des Vaters wie einen Atlas, der natürlich sehr metaphorisch wirkt, aber auch Informationen in sich birgt, die über Erdkunde hinausgehen. im Roman, der übrigens schon dreißig Jahre alt ist, hätte wahrscheinlich auch die Erzählstruktur besser funktioniert, denn durch das Hin- und Herspringen zwischen den Zeiten fühlte zumindest ich mich etwas überfordert, weil schon etwas Aufmerksamkeit dazu gehört, die zwei Brüder und Jackie in den unterschiedlichen Zeitsträngen sofort zuzuordnen. Eine klare Zugabe zum Buch ist aber die die Zeiten verbindende Musik von Patti Smith, deren Album Horses einerseits Celia und ihre Mutter Jackie verbindet (wovon man sonst im Film wenig merkt), und auch eine gewisse Inspirationsquelle für Celias literarischen Gehversuche bildet, die auch den deutschen Titel des Films, Als das Meer verschwand, hervorbringen.

Ich wiederhole mich, aber gerade Celias Kurzgeschichte ist so filigran mit der Haupthandlung verwoben, wie man es zuletzt in The Sweet Hereafter sah. Und dieser Film war auch eine Romanverfilmung (für Egoyan eine Besonderheit), doch ausgerechnet die Geschichte vom Rattenfänger findet sich im Buch von Russell Banks überhaupt nicht. Das wenigste, was In my Father’s Den vollbracht hat, ist, daß ich jetzt diesen Roman des in Neuseeland sehr bekannten Maurice Gee lesen will. Darin geht es laut Presseheft auch nicht um einen Kriegsphotographen, und die Beziehung zwischen Paul und Celia soll ganz anders gewichtet sein. Vielleicht finde ich den Roman noch viel besser, ähnlich wie bei Graham Swifts Waterland, dessen Verfilmung (von Stephen Gyllenhaal, mit Jake, Maggie und in wichtigeren Rollen Jeremy Irons und Ethan Hawke) ähnliche Probleme hat wie ich sie hier hineininterpretiere. Vielleicht finde ich aber auch den Roman etwas enttäuschend, wie bei Egoyan / Banks, und ich weiß den Film nach der Lektüre sogar noch mehr zu schätzen …