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November 2003
Thomas Vorwerk
für satt.org

Ich habe keine Angst
Io non ho paura

I/ES/GB 2002

Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)

Regie:
Gabriele Salvatores

Buch:
Niccolò Ammaniti, Francesca Marciano

Lit. Vorlage:
Niccolò Ammaniti

Kamera:
Italo Daniele Petriccione

Schnitt:
Massimo Fiocchi

Musik:
Ezio Bosso, Pepo Scherman

mit den Kindern Giuseppe Cristiano (Michele), Mattia Di Pierro (Filippo), Adriana Conserva (Barbara), Guilia Matturro (Maria), Fabio Tetta (Teschio), Stefano Biase (Salvatore), Fabio Antonacci (Remo) und den Erwachsenen Aitana Sánchez-Gijón (Anna), Dino Abbrescia (Pino), Diego Abatantuono (Sergio), Giorgio Careccia (Felice)

Kinostart:
18. Dezember 2003

Ich habe keine Angst
Io non ho paura



OSCAR-Preisträger Gabriele Salvatores (der Regisseur)
kommt im Vorfeld des Kinostarts zu einer kleinen Tour nach Deutschland.
Folgende Pressetermine und Kinopreviews stehen fest:
13.12.20.00 UhrFrankfurtFilmmuseum
14.12.20.00 UhrMünchenCity Kinos
15.12.20.00 UhrLeipzigPassage Kinos
16.12.20.00 UhrBerlinHackesche Höfe
17.12.20.00 UhrBerlinBalazs


Die Geheimtips der letzten Berlinale wie "Broken Wings" oder "Ararat" kommen jetzt nach und nach in die deutschen Kinos, und insbesondere bei "Io non ho paura" bin ich im Nachhinein verwundert, wie gleichgültig einige Kritiker und Bekannte im Februar auf diesen Film reagierten, für mich zählt er zu dem Dutzend wahrer Entdeckungen des Kinojahres - aber das kann auch von ganz persönlichen Vorlieben abhängen, wie ich später noch ausführen werde.

Zu Beginn zeigt der Film seinen Titel in die dunklen Wände einer Höhle eingeritzt, und auch, wenn sich dadurch der Autor dieses Satzes im Endeffekt offenbart, zeichnet sich auch die Hauptfigur, der neunjährige Michele, mehrfach durch seine Furchtlosigkeit aus, weshalb der Titel auch für ihn steht.



Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)



Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)



Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)



Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)



Ich habe keine Angst (Io non ho paura) (R: Gabriele Salvatores)

Eine Kinderschar rennt durch ein Kornfeld. Durch seine kleine Schwester Maria wird Michele abgelenkt und gelangt als letzter zum Zielpunkt, die verlassene Ruine eines Hauses. Normalerweise muß der Letzte - also Michele - immer eine Mutprobe oder ähnliches über sich ergehen lassen, aber nach (relativ) demokratischen Beschluß finden es die jungen Bengel spannender, wenn die etwas dickliche Barbara einen erzwungenen anatomischen Anschauungsunterricht veranstaltet - doch bevor es dazu kommt, springt Michele ein und zeigt, was in ihm steckt - inspiriert von seinen Lieblings-Comichelden.

Und als wären diese Erlebnisse nicht schon abenteuerlich genug, findet Michele eines Nachmittags ganz allein in der Nähe des verfallenen Hauses ein verdecktes Erdloch, in dem ein kleiner Junge - in Micheles Alter - eingesperrt ist. Michele verpflegt seinen neuen Freund fortan heimlich mit Wasser und hin und wieder sogar mit Essen, aber nach und nach erfährt er vom Geheimnis des Jungen - und dadurch mit einer gewissen Verspätung (der Zuschauer ist Michele oft einige Schritte voraus) auch von der tödlichen Gefahr, die in seinem unmittelbaren Umfeld lauert.

"Io non ho paura" nimmt fast gänzlich die Perspektive der Kinder ein, und schildert das, was man oft als "Abenteuer eines Sommers" zusammenfasst - nur mit dem Unterschied, daß die Abenteuer unserem kleinen Helden immer mehr über den Kopf wachsen. Diese Art von gruseligem Kinderfilm, ganz in der Tradition von Kinderbuchklassikern wie "Treasure Island" oder "Tom Sawyer" (auch mit Höhlenbegehung) übte schon immer eine besondere Faszination auf mich aus.

"Ich habe keine Angst" erinnert in seinen besten Momenten an die innerlich zerrissenen kleinen Helden in Carol Reeds "The Fallen Idol" (GB 1947, dt.: "Kleines Herz in Not") oder Ted Tetzlaffs "The Window" (USA 1949, dt.: "Das unheimliche Fenster"), an die märchenhafte Atmosphäre in Charles Laughtons "The Night of the Hunter" (USA 1955), oder das langsame Verstehen der Welt der Erwachsenen in Robert Mulligans "To Kill a Mockingbird" (USA 1962) - allesamt Klassiker aus dem vagen Umfeld des Film noir, die einen zunächst subtilen und dann immer mächtigeren Sog des Grauens entwickeln - und nicht automatisch dafür garantieren, daß am Schluß alles gut ausgeht. Und ebenso wie alle diese Filme sich auch über die darstellerischen Meisterleistungen ihrer minderjährigen Protagonisten definieren, sind sie auch allesamt nach Büchern von Literaten wie Graham Greene, Harper Lee oder Cornell Woolrich entstanden. Und - wenn mag es verwundern? - auch "Io non ho paura" basiert auf einer literarischen Vorlage, auf Niccolò Ammanitis "Die Herren des Hügels" (dt. bei C. Bertelsmann) - und es ist offensichtlich, daß vieles, was die Kraft dieses Films ausmacht, aus dem Buch stammt.

Aber auch visuell ist der Film von Gabriele Salvatores (der 1992 für "Mediterraneo" bereits einen Oscar - bester fremdsprachiger Film - bekam) bemerkenswert. Das undurchdringliche Dunkel des Erdlochs ist natürlich die Entsprechung der menschlichen Abgründe, die sich langsam auftun. Und der extreme Kontrast zu den goldgelben Kornfeldern und dem strahlendblauen Himmel steht für die (vorerst ungebrochenen) Unbeschwertheit der Kindheit. Mit fast den selben Mitteln (statt eines schwarzen Loches gab es dort eine "schwarze Witwe") arbeitete auch schon ein leider fast unbekannter Klassiker von 1989: Philip Ridleys "The Reflecting Skin" (GB, dt.: "Schrei in der Stille"). Hier bildet sich der junge Seth Dove ein, seine Nachbarin sei ein Vampir - nur um darüber die wahren Gefahren (von innen und außen) zu übersehen - bis zum bitteren Schluß, der wirklich nichts mehr mit einem Kinderfilm gemeinsam hat.

"Io non ho paura" ist fast genauso kompromisslos in seiner Geschichte, und schon für das Ende - verhalten optimistisch, aber dennoch erschreckend - (und nebenbei genauso dramatisch überhöht wie bei den letzten Bildern von Seth Dove) muß man den Film lieben. Und daran können auch einige inszenatorische Stolperer und die kurz nach der Mitte des Films vorübergehend abklingende Intensität (zuviele Fahrradfahrten …) nichts ändern.