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20. Oktober 2009
Franziska Herrmann
und Simon Lange
für satt.org

  Jean Regnaud und Émile Bravo: Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen
Jean Regnaud und Émile Bravo:
Meine Mutter ist in Amerika
und hat Buffalo Bill getroffen

Aus dem Französischen
von Kai Wilksen
Handgelettert von Michael Hau
Hamburg: Carlsen 2009
128 Seiten, € 17,90
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Portrait des Jean
als junger Tor

„Lieber Jean, ich bin in der Schweiz. Ich fahre jeden Tag Ski. Die Bäume sind ganz weiß vom Schnee, es ist kalt. Ich habe eine Uhr gekauft, die Kuckuck macht, ich zeige sie dir, wenn ich wieder da bin. Liebe Grüße – Deine Mama.“ Postkarten dieser Art sind das Einzige, was der Erstklässler Jean vermeintlich von seiner Mutter hat – vorgelesen vom Nachbarsmädchen. Doch warum bekommt sie die Briefe und nicht er oder Papa oder zumindest das Kindermädchen? Und warum benehmen sich Erwachsene ihm gegenüber immer so komisch?

14. September 1970. Das ist Jeans erster Schultag und gleichzeitig der Beginn des kindlich-naiven, aber gleichzeitig intelligenten, anrührenden Comics. Die neue Lehrerin fragt die Schüler nach dem Beruf der Eltern. Für Jean der blanke Horror! „Ich fange an in meine Socken zu schwitzen. [...] Könnte ich doch wegrennen!!!“ Denn Jean lebt zusammen mit seinem jüngeren Bruder Paul bei dem zumeist übelgelaunten, strengen Vater und dem gutmütigen, über alles geliebten Kindermädchen Yvette. Seine Mutter ist nicht da, die ist Sekretärin und auf Reisen – glaubt Jean. Denn Michèle, das zwei Jahre ältere Nachbarsmädchen, zaubert regelmäßig Post von der abwesenden Mutter hervor. Mal aus Spanien, wo sie von Stierkämpfen und Paella erzählt, mal aus Afrika, wo sie auf Elefanten und andere wilde Tiere trifft, und sogar ein Brief aus Amerika ist dabei, der von ihrem Treffen mit Buffalo Bill berichtet. Jean ist ganz schön stolz auf seine Mutter. Aber wieso ist sie nicht bei ihm – obwohl er sie doch so vermisst? Er muss feststellen, dass die Erinnerungen an seine Mama völlig ausgelöscht sind. Der Vater spricht nicht über sie, und die wenig geliebten Großeltern vermeiden es ebenso. Nur ein Bild von ihr, das bei den Großeltern über dem Kamin hängt, lässt Jean träumen von einer schönen, liebevollen Mutter aus vergangenen Zeiten. So sind die Briefe für Jean jedesmal ein ganz besonders Ereignis, und er saugt jeden Satz in sich auf.

Jeans Mutter ist tot. Jeder weiß es, nur Jean nicht. Dem Leser wird dies schnell klar, etwa durch das Verhalten der Erwachsenen ihm gegenüber, wie z.B. das der ständig weinenden Freundinnen der Oma. „Sie wuscheln uns durchs Haar und schauen uns traurig an, so, als wären wir krank.“ Oder durch die seltsamen Fragen des schmierigen Schulpsychologen. Doch Jean und sein Bruder tappen völlig im Dunkeln. Durch das Schweigen und das Verwirrspiel der Anderen geistert die Mutter schemenhaft in den Gedanken der Brüder umher.

Der französische Autor und Journalist Jean Regnaud erzählt aus autobiographischer Perspektive in „Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ aus dem Leben des kleinen Jean, vom ersten Schultag bis zu den Weihnachtsferien. Die Wunschvorstellungen und Träume Jeans sind ein wichtiger Bestandteil der Geschichte, die in zahlreichen Bildern oftmals überspitzt und witzig dargestellt werden. Verantwortlich für die hervorragenden Zeichnungen ist Émilie Bravo. Zusammen realisieren er und Regnaud regelmäßig preisgekrönte Projekte. Die vorliegende Zusammenarbeit ist 2008 auf dem Comic-Salon in Angoulême ausgezeichnet worden.

Jean Regnaud und Émile Bravo: Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen

Das vom Verlag als Graphic Novel auf den Markt gebrachte Werk gliedert sich in vierzehn verschiedenfarbig unterlegte Kapitel, jeweils mit nachstehendem, teilweise vorausdeutendem oder kommentierendem „Intermezzo“ und einem Epilog am Ende des Buches. Die Seiten sind jeweils sehr abwechslungsreich gestaltet. Bravo benutzt für seine Bilder unterschiedliche zeichnerische Elemente, wie etwa ganzseitige Anfangsseiten als Einführung in das kommende Kapitel, einzelne freigestellte, vor eine Farbfläche montierte Szenen oder kleine, fortlaufende Bildpassagen. Ebenso machen die karikaturhaften, oftmals grotesken Zeichnungen das Buch zu einem ganz besonderen Leseereignis. Häufig kommen einige Bildpassagen auch vollständig ohne Text aus und geben dem Leser durch genaues Betrachten zusätzliche Informationen und eine traurige Ahnung über den Verbleib der Mutter. So ist in einem Intermezzo der angebliche Brief der Mutter aus Amerika abgebildet, der von Rechtschreibfehlern nur so wimmelt, so dass dem Leser deutlich wird, dass die Briefe vom Nachbarsmädchen selbst geschrieben wurden.

Auch durch die überzeichnete, lustige Darstellung der verschiedenen Figuren durch Bild und Text, etwa der uralten, faltigen Verwandten, des stummen, dafür aber ständig grinsenden Vietnamesen in Jeans Schule oder der kettenrauchenden Oma, trägt zum Lesevergnügen bei.

Durch die kindlich-naive Darstellung des Jungen erobert dieser sofort das Herz des Lesers und lässt diesen trotz aller Andeutungen auf einen glücklichen Ausgang hoffen. Der Humor des Buches ist für junge Leser nicht durch und durch verständlich, manchen ironischen und sarkastischen Witz werden Kinder nicht ohne Erklärung entschlüsseln können. Somit ist das Werk, welches aufgrund seines autobiographischen Hintergrunds voller kleiner Botschaften steckt, auch oder gerade für ältere Leser sehr zu empfehlen. Die Autoren zeigen mit ihren frechen, witzigen Bildern und Texten auf die Welt des kleinen Jean. Mit „Meine Mutter ist in Amerika und hat Buffalo Bill getroffen“ ist dem französischen Duo eine herzergreifende, aber auch ausgesprochen lustige Geschichte für Kinder ab acht Jahren gelungen. Äußerst empfehlenswert – ein tolles Buch!


Dieser Beitrag erschien zuerst in der Les(e)bar.