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Dezember 2004
Andreas Platthaus
für satt.org


Craig Thompson:
Carnet de Voyage

Top Shelf Productions 2004

Craig Thompson: Carnet de Voyage

224 S., sw, br
14,95 $ » amazon

VENTIL:
1: Mawil: Wir können ja Freunde bleiben

2: Emmanuel Moynot: L'Enfer du jour

3: Yoann, Vermot-Desroches, Sfar, Trondheim: Donjon Monsters 5,6

4: Jason: Hey, warte mal …

5: Anke Feuchtenberger, Katrin de Vries: Die Hure H | Diceindustries: Rimini Redux

6: Joann Sfar: Le Chat du Rabbin 3: L’Exode

7: Ulf K.: Titus von Götheborg | Uli Oesterle: Hector Umbra. Der halbautomatische Wahnsinn

9: Moebius, Stéphane Cattaneo: Beautiful Life

10: Neil Gaiman, P. Craig Russell: Mordmysterien

11: David B.: Babel

12: Baru: Wut im Bauch

13: Georges Abolin, Olivier Pont, Jean-Jacques Chagnaud: Jenseits der Zeit


Andreas Platthaus'
VENTIL No. 8




Craig Thompsons
"Carnet de voyage"


Die Gattung des Tagebuchcomics hat international Achtung erworben, seit Lewis Trondheim und Joann Sfar mit ihren Publikationen in der Collection Côtelette des Verlags L’Association die Möglichkeiten des Genres neu ausgelotet haben. Sie zeichnen ihre Erlebnisse noch während der Ereignisse (bei Trondheim Reisen, bei Sfar schlichtweg alles) auf, ohne jegliche späteren Korrekturen. In direkte Nachfolge dieser Arbeiten begibt sich nun mit seinem "Carnet de voyage" der neunundzwanzigjährige Amerikaner Craig Thompsons, dessen gewaltiger Comicroman "Blankets" im Jahr 2003 herausgekommen und seit vergangenem Sommer auch auf deutsch erhältlich ist. Vier Jahre hatte sich Thompsons Leserschaft nach dessen Debüt "Good-bye, Chunky Rice" gedulden müssen, bis "Blankets" erschien, und um die Wartefrist bis zum Erscheinen des bereits angekündigten dritten Albums "Habibi" zu verkürzen, ist vom Verlag das "Carnet de voyage" eingeschoben worden.



Abbildung aus dem besprochenen Band
Abbildung © Craig Thompson

Aber es ist weit mehr als ein Pausenfüller. Das Reisetagebuch dokumentiert den im Frühjahr 2004 absolvierten zweieinhalbmonatigen Europabesuch Thompsons, in dessen Verlauf er auch Marokko bereiste, wo er mit der Recherche für "Habibi" begann. Doch die meiste Zeit verbrachte er auf Promotiontour für "Blankets", und das vor allem in Frankreich (aber auch der letzte Comicsalon in Erlangen bekommt eine kleine Erwähnung). Aufenthalte als Gast bei den Kollegen Blutch und Lewis Trondheim und Treffen mit Charles Berberian, Paul Pope oder Charles Burns (um nur einige zu nennen) bei Festivals gewähren Thompson Einblicke in Arbeitsweisen und Lebensstile, die ihm nicht immer ganz geheuer erscheinen. Aber vor allem läßt uns Thompson teilhaben an einer privaten Lebenskrise, die mit der Trennung von seiner schwer erkrankten Freundin ihren Anfang nahm und auf der Europareise kulminierte. Es ist rührend, seine Sehnsucht nach den Frauen, denen er begegnet, aus dem Carnet herauszulesen, das immer wieder zum Skizzenbuch dieser Faszination wird. Und es ist bedrückend, die Aussichtslosigkeit der schüchternen Avancen zu verfolgen – auch wenn Blutch den gemeinsamen Freund Trondheim in einem Brief, den er Thompson mitgab, vor dem Amerikaner warnte: "Er leert die Kühlschränke, er begeistert unsere Kinder, er macht unseren Frauen den Hof."

Thompson geht in "Carnet de voyage" bis zur Schmerzgrenze, und das ist buchstäblich zu verstehen, weil immer wieder Episoden erzählt werden, in denen er bis zur Verkrampfung seiner Finger gezeichnet hat und nur noch mit Schmerzmitteln seine Signierveranstaltungen durchstehen kann. Dennoch ist in das Reisetagebuch nicht weniger Aufwand geflossen als in "Blankets", und seinen graphischen Stil hat Thompson trotz den tagesaktuellen Aufzeichnungen schon gar nicht verändert: Der Einfallsreichtum betreffs Seitenarchitektur und Blickführung ist wiederum erstaunlich, und der stete Wechsel zwischen ganzseitigen und kleinteiligen Bildkompositionen sorgt für eine Rhythmisierung des Leseflusses, der dadurch die Geschehnisse auf der Reise genau spiegelt.

Am Schluß – so viel sei verraten – hat der verklemmte Charmeur seine ersehnte Liebe gefunden, und es paßt zu Thompsons selbstinszenierter Tragik, daß sie in Barcelona lebt, während er zurück nach Portland muß. Ihm ist eben auf dieser Welt keine Ruhe vergönnt. Solange er aus diesem Schicksal allerdings solche Virtuosenstücke erwachsen läßt, können wir uns dafür bedanken.