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Marc Degens
für satt.org

Rainald Goetz
R A V E

»[ …] könnte ja vielleicht mal einer schreiben, den geilen Realreißer aus der Technowelt. Drogen, Sex, Musik; Party, Liebe, Plattenladen; Club, Klamotten, Internationalität. Miami, Frankfurt, München, London, Ibiza, Berlin. Immer nur in den besten Hotels natürlich, Großketten, Holiday Inn und so, nur Suiten. Drogen ohne Ende, klar. [ …] Müßte nur wirklich extrem SAUGUT gemacht werden. Am besten natürlich vielleicht doch direkt wirklich von uns selbst. Abgemacht.« sprach der Linguist Wolli 1991 in Rainald Goetz' Textsammlung "Ästhetisches System". Die Wolken zogen dahin, sie zogen auch wieder her, doch der Realreißer aus der Technowelt ließ viele lange Jahre auf sich warten. Jetzt ist er endlich da, heißt "Rave" (nein, nicht "Relax") und verfaßt hat ihn der ewigjunge 1954er, immer noch Enfant terrible der deutschen Literaturszene, unser Rainald Goetz.

Goetz ist einer von ihnen, ein Fabelwesen der House- und Technokultur: Szenehirn, Nachtkörper, Tanzleib. Ein Künstler, der keine Kunst mehr mag/macht - oder umgekehrt. Vor vielen Jahren ist er eingetaucht in die tanzende Masse, in die Gemeinde [»DIE MEMBERS SIND EBEN DIE MEMBERS«]; junge Leute: »Sie hören Musik und tanzen. Sie gehen aus zum Abfeiern, Aufreißen und Ausrasten.« Das tun sie doch schon immer (»Junge Leute Ziehen Lange Hosen An Weil Man Damit Lässig Gehen Kann«, The Wirtschaftswunder), möchte man Goetz zurufen, doch er hört nicht hin, will nicht hinhören, er bleibt lieber weiterhin untergetaucht.

Die musikalische Pop-Kultur spielt in Rainald Goetz' Texten schon immer eine wichtige Rolle, sie »indiziert das Maß der Geschwindigkeit und das der Simultanietät, die für den Roman Irre bedeutsam werden« (Spies/Doktor). Wie in einem lärmenden Punksong sollen dem Leser die Inhalte um die Ohren geknallt werden. Hör mit Schmerzen - aber hör! Doch seit Rainald Goetz zu Anfang der neunziger Jahre einen musikalischen Paradigmenwechsel vorgenommen hat – von Punk zu Techno –, wurde das Mittel Zweck. Pop ist nicht mehr Vorbild, sondern Vorlage; kein formales Stilmittel, sondern Thema, Inhalt, Intention: Goetz schrieb eine Westbam-Fanfibel, Goetz doziert derzeit in seinen Frankfurter Poetik-Vorlesungen über seine Liebligsmusik, Goetz plant Platten, Goetz tanzt auf allen Hochzeiten zur gleichen Musik. Der Literat will Musiker sein - aber schreibt weiterhin Texte. Gute, manchmal sogar saugute.

»Im Techno befreit sich eine ausgelaugte musikalische Avantgarde von jener Angst, die ihr der eigene Anspruch auf unablässige Innovation einflößt«, so Hubert Spiegel. Gleiches gilt auch für die Pop- und Technoliteratur von Rainald Goetz. Sie entsteht bloß noch aus Gründen der Selbstvergewisserung; die Texte bestätigen nur, daß er dabei war. Und in seiner neuen Erzählung "Rave" hat Rainald Goetz exakt das umgesetzt, was sein Linguist Wolli Jahre zuvor forderte. „Rave" ist rasant mit über 200 bpm geschrieben; es gibt Drogen, Party, Tanz zuhauf – und auch massenweise Hühnchen und Hahnreie. Authentisch ist das ganze aber nur bedingt. Zwar möchte Goetz Teil der sich stets bewegenden, anonymen Masse sein (so wie die früheren italienischen Futuristen Teil der Maschine sein wollten), doch sein Blick ist der eines Priviligierten; seine Teilhabe am populären Geschmack ist legitim, weil er nun einmal von oben schaut.

Wer dazugehört, der kann sich jedenfalls glücklich schätzen und geschmeichelt fühlen. Keinesfalls aber ist Rainald Goetz der Günter Wallraff der Technoszene. "Rave" ist ein netter Unterhaltungsroman, mehr nicht. Der Roman ist keine Reportage, kein Tagebuch – das Buch beschreibt eine Fiktion: so könnte die Technokultur ausschauen, so stellt sich ein Künstler eine Jugendbewegung vor.

Es ist bezeichnend, daß, wenn man den Schutzumschlag vom Buch entfernt hat und also unter die Oberfläche blickt, der Buchrücken „Reinald Goetz" als Autor preist. Viele Leser (zu denen auch ich gehöre) werden sich bei der Lektüre nach dem alten „Rainald Goetz" zurücksehnen.

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[Rainald Goetz: Rave. Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 1998. 274 S., 30 DM.]

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